Kaputte Bahn
11. Juli 2010 um 20:20 Uhr von Atari-Frosch
„Zu besichtigen sind die Trümmer eines aus Geltungsdrang und Habgier kaputtgesparten, ehemals funktionierenden öffentlichen Verkehrsmittels”, erklärte XiongShui vor einer Stunde auf Twitter. Ja, so ist das.
Wir hatten mal eine gute, zuverlässige, pünktliche und sichere Bahn. Bis so ein paar Hornochsen auf die Schnapsidee kamen, es sei doch eine tolle Sache, die Bahn zu privatisieren und an die Börse zu bringen. Die Deutsche Bahn. Eine unserer wichtigsten Infrastruktur-Einrichtungen. Wie bescheuert muß man sein?
Trotz jährlicher, teils massiver Fahrpreiserhöhungen scheint es mittlerweile eher die Ausnahme als Normalzustand zu sein, daß ein Zug pünktlich kommt — und das längst nicht mehr nur an besonders heißen oder kalten Tagen.
Schlimmer ist jedoch, daß sich Ausfälle wie Unfälle aufgrund von schlechter Wartung, Personalmangel usw. häufen. Dabei geschehen teilweise regelrechte Katastrophen, die hätten vermieden werden können, wenn man nicht der Meinung gewesen wäre, die Bahn müsse nicht mehr primär Menschen und Güter transportieren, sondern vor allem Gewinne abwerfen. Die Bahn als Gesellschaftsaufgabe sei nicht mehr zeitgemäß, heute müsse alles privat gemacht werden. Spätestens seit den letzten zwei Jahren wissen wir, daß wir alle, als Gesellschaft, für diese idiotische Entscheidung immer wieder werden bezahlen müssen:
- Am 9. Juli 2008 entgleist ein ICE in Köln — bei Schrittgeschwindigkeit kurz nach der Ausfahrt aus dem Hauptbahnhof. Grund: Bruch einer Radsatzwelle. Wäre dasselbe bei Höchstgeschwindigkeit geschehen, dann hätte daraus eine Wiederholung des Unglücks von Eschede werden können.
- Mitte November 2008 stellt ein Untersuchungsbericht zu einem ICE-Unfall mit einer Schafherde fest: Das Katastrophenmanagement der Bahn war ein Desaster.
- Am 1. Mai 2009 entgleist eine S-Bahn in Berlin mit einem Riß im Radreifen. Der Wartungszyklus des Zuges war vorher um zwei Jahre verlängert worden.
- Am 8. September 2009 berichtet die Tagesschau, daß die Berliner S-Bahn drei Viertel ihrer Züge wegen eventuell defekter Bremsen aus dem Verkehr ziehen muß, bis alle Züge überprüft sind.
- Im Januar 2010 fallen massenweise Züge aus: Der NDR berichtet am 30. Januar 2010 von Schneeverwehungen, die in Norddeutschland auch den Bahnverkehr zusammenbrechen lassen.
- Am 26. Februar 2010 berichtet RBB Online, daß es schon wieder Ausfälle bei der Berliner S-Bahn gibt. Diesesmal geht es bei einer älteren Zugreihe um Risse in den Rädern.
- Am 17. April 2010 verliert ein ICE in voller Fahrt eine Tür, die beim entgegenkommenden Zug einschlägt wie eine Bombe.
- Die Zeit meldet am 4. Juli 2010, daß in diesem Jahr bereits neun Güterzüge entgleist sind — und die Bahn keine Zusammenhänge sehen will.
Und aktuell? Am bis dahin heißesten Tag des Jahres kollabierten gestern in einem ICE neun Schüler und eine hochschwangere Frau, weil die Klimaanlage ausgefallen ist. Aber die Bahn läßt heute bei weiterhin hohen Temperaturen ihre Fahrgäste trotz defekter Klimaanlagen in überfüllte Züge steigen: Eine Journalistin der Rheinischen Post berichtet heute laufend von einer Fahrt in einem ICE von Berlin nach Düsseldorf, daß — die Klimaanlagen in den Zügen ausfallen. Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Körperverletzung und unterlassener Hilfeleistung.
Wieviele Menschen sind wohl heute in den Zügen zusammengeklappt? Wieviele werden ins Krankenhaus müssen? Wer bezahlt dafür? Die Bahn verspricht Entschädigungen; vermutlich sind Entschädigungen billiger, als dafür zu sorgen, daß die Klimaanlagen einfach mal funktionieren und die Züge nicht überfüllt werden.
Herr Bundesverkehrsminister! Machen Sie Schluß mit diesem Wahnsinn, erkennen Sie die Bahn wieder als das, was sie ist: Als Gesellschaftsaufgabe, die von allen, also vom Staat zu erfüllen ist! Ja, das kostet etwas. Aber diese Kosten sollen dann bitte alle tragen und nicht immer nur die Betroffenen von Ausfällen und die Opfer teils schwerer Unfälle!
11. Juli 2010 at 21:07
‚Wir hatten mal eine gute, zuverlässige, pünktliche und sichere Bahn.‘
In welchem Universum soll das denn gewesen sein? Wir hatten vielleicht weniger Medienaufmerksamkeit in der Vergangenheit, wenn Leute ohne Platzkarte in überfüllte Züge eingestiegen sind. Wollen wir – wie in anderen Ländern – aber wirklich eine Platzkartenpflicht einführen? Manches spricht dafür, aber die Gängelung der Bürger nimmt dadurch nicht gerade ab.
Bedauerlich sind die Zustände aber natürlich trotzdem.
12. Juli 2010 at 8:59
Ich bin auch der Meinung die Privatisierung war eine schlechte Idee.
Infrastruktur sollte eine staatliche Aufgabe sein. Stellen wir uns mal die Folgen vor, wir würden die Straßen privatisieren, dann könnte ich mich hier auf ’nem Dorf schonmal auf kaputte Wege einstellen.
Sollte nicht sogar die Grundversorgung mit Internet eine staatliche Aufgabe sein?
19. Juli 2010 at 10:21
@egal:
Ja die Bahn war mal pünklich. Das war sie zu meiner Kindheit noch. Da war sie aber auch noch nicht Privat.
Nicht zuletzt war es die Bahn, die auf dem Land die einheitliche Zeit mit eingeführt hatte. Nicht zuletzt gab es den Spruch „Pünklich wie die Eisenbahn!“.
@Brathering:
Wenn wir über die Privatisierungen der letzten 30 und mehr Jahre schauen, erleben wir derzeit, wohin die Privatisierung führt.
Auch wenn manche es nicht wahrhaben wollen .. im Bereich der Telekommunikation (auch ehemals Hoheitsaufgabe) werden wir das auch noch erleben ..
Im Postbereich sehen wir die Auswirkungen auch schon.
Im stationären Gesundheitswesen ebenso …
Da wird dem Bürger gepredigt, durch die Privatisierung wird alles (weil dann ja mehrere Anbieter existieren würden …) „günstiger“ ..
Im Postbereich sehen wir die Auswüchse: Briefzusteller werden unterm Lebensminimum beschäftigt, Paketzustellung wird teils durch Subunternehmen (Ein-Personen-Firmen) abgewickelt, damit lassen sich viele Dinge sparen …
Die Liste läßt sich fast endlos weiterführen.
Der elementare Unterschied zwischen einem „Hoheitsbetrieb“ zu einem „Privatbetrieb“ ist, daß ein „Hoheitsbetrieb“ „nur“ Rücklagen (Weiterentwicklung, Krankheit etc) bilden muß. Ein Privatbetrieb „muß“ auch noch „Gewinn“ abwerfen … irgendwoher muß dieser „Gewinn“ kommen 😉 An einer Stelle bei der Privatisierung wird also dann gedreht, damit ein „Gewinn“ entsteht.
Letztendlich wird also eine Umverteilung angeworfen …
Viel Spaß also noch 😉