Hartz IV und Grundrechte
19. Februar 2011 um 20:08 Uhr von Atari-Frosch
Gerade gestern schrieb ich im Artikel Frau Merkel, Sie kotzen mich an! über Grundrechtseinschränkungen, die man mit Hartz IV so quasi automatisch mitgeliefert bekommt. Heute habe ich das in einem Kommentar im Forum von Telepolis Online zum Artikel „Ab ins Obdachlosenwohnheim - denn das hält die Politik für 'zumutbar'” nochmal genauer ausgeführt (kompletter Kommentar: Re: Ist es nicht spannend):
[Diese Grundrechte sind] nicht [gegeben] bzw. grundlos eingeschränkt:
- Art. 1 Menschenwürde vs. Behandlung bei ARGE und „Sozialamt” sowie regelmäßige Volksverhetzung gegen Hartzer in Boulevard- und anderen Medien und durch Politiker.
- Art. 2 Freie Entfaltung vs. Sozialsatz, der dies nicht zuläßt (trotz expliziter Nennung in § 1 SGB I als Zweck der Sozialhilfe!)
- Art. 3 Gleichheit vor dem Gesetz: Unterlassene Hilfeleistung, Lügen, Betrug, Erpressung, Verfahrensverschleppung, Dokumentenvernichtung, Existenzzerstörung usw. bleiben für Angestellte der Ämter folgenlos, aber wer sich nur auch nur minimal was dazuverdient, ohne das anzugeben, weil es einfach nötig ist (!), wird doppelt verknackt: Geldstrafe plus Abzüge beim „Existenzminium”.
Besonderes Stichwort: § 82 SGB XII (Grundsicherung, in diesem Fall bei Erwerbsunfähigkeit, weil die Rente nicht mal für die Miete reicht). Jeder Zuverdienst wird mit 70% Diebstahl bestraft. Das werte ich als gleichbedeutend mit einem Arbeitsverbot oder zumindest mit der deutlichen Ansage: Erwerbsunfähige sollen sich nicht bemühen, den Satz mit dem wenigen, was sie noch leisten können, aufzubessern.
- Art. 6, insbes. Abs. 4 vs. werdende Mütter, die, schon hochschwanger, in 1€-Jobs gezwungen werden (gab in letzter Zeit mehrere Fälle); betrifft mich nicht persönlich, weil kinderlos, aber betrifft viele andere.
- Art. 11 Freizügigkeit vs. Meldepflichten. Nein, Abs. 2 greift nicht, weil die „besonderen Lasten” nicht gegeben sind. Sozialstaatlichkeit ist keine „besondere Last” sondern Verpflichtung der Gesellschaft!
- Art. 12 Freie Wahl von Beruf, Ausbildungs- und Arbeitsplatz (trifft für mich als Erwerbsunfähige jetzt nicht direkt zu, traf mich aber vorher als Arbeitslosenhilfebezieherin und trifft jetzt Millionen Arbeitslose). Und das, obwohl indirekt als Zweck der Sozialhilfe in § 1 SGB I zitiert!
- Art. 13 vs. Hausbesuche durch ARGE-Angestellte mit der Androhung des empfindlichen Übels, die Leistungen einzustellen = Existenzvernichtung, wenn man auf dieses unveräußerliche (!) Grundrecht nicht verzichtet.
- Art. 19 Abs. 1 vs.: Die Grundrechts-Einschränkungen werden im SGB nicht explizit genannt.
Und dann war da noch der LVR, der meinte, ich müßte, um (weiterhin) Hilfe durch einen Sozialarbeiter zu bekommen, die Kontoauszüge der letzten 3 Monate vorlegen, obwohl der ALG-II-Bescheid vorliegt (zur Erklärung: Rente wurde nach blödsinnigem Gutachten aberkannt, Klage vorm Sozialgericht läuft seit über einem Jahr, da tut sich nix). Das Bundesverfassungsgericht hat für einen gleichartigen Fall klar erkannt: Kontoauszüge sind nicht nötig, unnötiger Eingriff in Privatsphäre. LVR meint: „Das gilt für uns nicht.” — Ich habe auf den Sozialarbeiter verzichtet, weil ich mich nicht in der Lage sehe, zwei Klagen parallel zu betreiben und weil die Stiftung, die den Sozialarbeiter stellte, sich einen Dreck um meine Rechte schert. Man lehnte sich quasi zurück & wartete drauf, ob ich die Kastanien aus dem Feuer hole, damit sie weiter kassieren & weiterhin die Rechte ihrer Klienten mißachten können. Diese Rechte sind ihnen wohl zu teuer.
Was ich in dem Kommentar bei Telepolis noch vergessen hatte, ist die massive Einschränkung der informationellen Selbstbestimmung AKA Datenschutz, die vom Bundesverfassungsgericht als grundgesetzliches Persönlichkeitsrecht festgestellt wurde. Zum Beispiel bei den Gesprächen bei ARGE und Repressionsamt bei geöffneter Zwischentür zum Nebenzimmer, damit man gegenseitig ja alles mitbekommt, oder auch die Idee der ARGEn, Briefe und sämtliche Akten durch die Post zu öffnen, zu scannen und damit in elektronische Akten umzuwandeln. Aber bei Hartzern ist das ja alles nicht so wichtig ...
[Update 2011-02-19 21:20] Brigitte Vallenthin hat auf die vielen Kommentare noch eine Presseerklärung herausgegeben (kam über Newsletter, Link habe ich keinen):
„Dass der Wind nach meinem Interview mit Telepolis/Heise zu den zahlreichen politisch gewollten gesellschaftlichen Problemen durch Hartz IV kräftig von vorne kommen würde, damit habe ich gerechnet,“ erklärt Brigitte Vallenthin gegenüber dem Sozialticker. „Dass der Beitrag aber offensichtlich so ins Schwarze getroffen hat - bei denen, die Millionen in Armut gedrängte und gehaltene Menschen in diesem Lande am liebsten noch mehr ausbluten würden -, dass Telepolis den Titel änderte, das hätte ich nicht erwartet.“
In der heißesten Phase der Regelsatz-Kungeleien traf das Interview von Hartz4-Plattform-Sprecherin offenbar derart den Nerv der politisch taktierenden Wahlkämpfer, dass die Headline vom Morgen „Hartz IV ist im Sinne der Erfinder, aber nicht der Gesellschaft“ offenbar nicht mehr zu halten war und in "Ab ins Obdachlosenwohnheim - denn das hält die Politik für "zumutbar"" geändert wurde. Die Hartz4-Plattform Sprecherin und Autorin von „Ich bin dann mal Hartz IV“, die beim Interview – im Unterschied zu einem namentlich nicht genannten Politiker – das ehemalige Headline-Zitat ordnungsgemäß mit Anführungsstrichen kenntlich gemacht und auch die Quelle – Prof.Dr.jur. Helga Spindler, langjährige Sozialrechtsexpertin von der Universität Duisburg-Essen - pflichtgemäß benannt hat, fühlt sich durch die zahlreichen, vorurteilsbeladenen Kommentarbeiträge zu dem Beitrag (http://www.heise.de/tp/r4/artikel/34/34221/1.html) durch dieses Zitat nur noch einmal bestätigt:
„Hartz IV ist im Sinne der Erfinder, aber nicht im Sinne der Gesellschaft.“
Wiesbaden, 19. Februar 2011
[/Update]