Eike
21. April 2014 um 13:59 Uhr von Atari-Frosch
… oder: Wie Autismus den Lebensweg verbiegen kann
Wir schreiben das Jahr 1994. Ich war 26 Jahre alt, hatte gerade eine Trennung nach einer langjährigen Beziehung hinter mir und wollte eigentlich erstmal emotional zur Ruhe kommen. Aber es kam anders – ganz anders.
Eike hatte ich in jenem Jahr beim Star Trek Fanclub Enterprise Germany kennengelernt, der sich zu dieser Zeit regelmäßig in einer Gaststätte in Mannheim-Neuostheim traf. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich da mal hingekommen war. Jedenfalls war er dort auch Mitglied gewesen.
In einem anderen Umfeld, nämlich in dem einer klassischen Mailbox, hatte ich außerdem H. kennengelernt. Beide, Eike und H., fand ich zunächst einfach sympathisch. Beide waren sehr nett zu mir; H. reparierte meine alte Heimorgel und brachte mir ein wenig Digitaltechnik bei; Eike fuhr mich nach den Clubtreffen mit dem Auto nach Hause, weil der Weg mit dem ÖPNV für mich ziemlich umständlich war.
H. zeigte mir bald recht deutlich, daß er „mehr“ von mir wollte, und zog im August oder September '94 bei mir ein.
Eike dagegen schien einfach nur nett zu sein. Ich war unfähig, zu interpretieren, ob er es auf mehr abgesehen hatte oder einfach immer so war. Gedanken machte ich mir durchaus. Ein massiver Mangel an Selbstwertgefühl meinerseits machte es mir unmöglich, die entscheidende Frage zu stellen. Eike war groß, gutaussehend, offenbar wirtschaftlich abgesichert, ein paar Jahre jünger als ich. Was sollte er also wollen von einer Frau, die schon älter ist, übergewichtig und in wirtschaftlich prekärer Situation? Ich hatte nur ein Halbtagsgehalt und konnte nach Miete, Strom und Telefonrechnung kaum mein Essen bezahlen.
Umgekehrt war mein Verhalten wohl auch nicht ausgeprägt genug, um zu zeigen, daß ich durchaus ebenfalls Interesse hatte. Das hing anfangs auch mit der gerade vollzogenen Trennung zusammen; ich scheute mich davor, mich direkt ins nächste Abenteuer zu stürzen. Später kam eben H. quasi dazwischen.
Und dann kam dieser eine Tag, den ich nie vergessen werde; das müßte etwa September oder Oktober '94 gewesen sein. Ich war schon eine Weile nicht mehr beim Clubtreffen des Fanclubs gewesen. Eike kam überraschend zu mir nach Hause, aber H. öffnete die Tür, und ich stand so halb hintendran. Eike erkannte die Situation mit einem Blick, machte einen tiefen Diener – und in einem Sekundenbruchteil erkannte ich den Schmerz in seinem Gesicht. Danach drehte er sich um und ging. Ich habe ihn nie wiedergesehen.
Ich habe an den darauffolgenden Tagen viel gegrübelt. Hatte ich die richtige Entscheidung getroffen? (Nein, hatte ich nicht, aber das sollte mir erst Jahre später klar werden.) Hätte ich in der Situation irgendwas tun können?
Und mir wurde klar, daß ich von ihm überhaupt keine Kontaktdaten hatte. Keine Adresse, keine Telefonnummer (Mailadressen waren zu der Zeit noch nicht so üblich), nicht einmal den Nachnamen. Oder vielleicht wußte ich den mal und weiß ihn nur heute nicht mehr, keine Ahnung. Ich hätte danach gern mit ihm drüber gesprochen, aber konnte ihn nicht mehr finden.
Zum Club hatte ich auch keinen Kontakt mehr; nach der Star-Trek-Convention im August 1994 (im Kongreßzentrum Rosengarten in Mannheim) war für mich da erstmal die Luft raus gewesen. Zum einen war die Con ziemlich anstrengend gewesen, zum anderen hatte ich dann auch noch zu viel anderes um die Ohren gehabt, um weiterhin zu den Treffen gehen zu können.
Ich konnte mir damals einfach nicht erklären, warum ich seine Signale nicht verstanden hatte. Und ich habe mir schon manches Mal überlegt, von wievielen Anderen ich entsprechende Signale nicht verstanden habe, wenn ich das schon in diesem Fall nicht konnte.
Inzwischen habe ich die Antwort: Sie heißt Autismus. Ich kann solche Signale nicht interpretieren, sondern brauche klare Ansagen.
Für die Situation damals kommt diese Antwort natürlich viel zu spät. Aber immer mal wieder geistert Eike durch meinen Kopf, und dieses „was wäre, wenn“ kreiselt in meinen Gedanken.
Wäre ich damals in der Lage gewesen, die Signale rechtzeitig richtig zu deuten – mein Leben wäre möglicherweise sehr anders verlaufen …
21. April 2014 at 14:37
Das kenne ich woher. Aber ob das bei mir mit Autismus zu tun hat oder einfach nur Unerfahrenheit kann ich nicht sagen. Ein Lächeln ist für mich z.b einfach nur ein lächeln. Ob mehr dahinter steckt kann ich nicht rauslesen. Ich selbst habe das auch schon erlebt, dass eine Frau meine Signale falsch interpretiert hat. Seitdem bin ich da lieber mit klaren Worten zugange. Entweder schriftlich oder persönlich.
22. April 2014 at 0:40
Glaub mir, man kann es auch versemmeln, wenn man eine klare Ansage bekommt. Ich habe es versemmelt. Mit 11. Ja, lacht mich aus. Aber ich glaube, daraus hätte was Großes werden können …
22. April 2014 at 1:28
ROFL – aus welcher Liebe mit 11 wird schon was Großes? Sowas hält doch idR nicht lang.
22. April 2014 at 8:45
Glaub mir, auch die vermeintlich „Normalen“, die Checker, die Alleswisser, die Taffen und Hippen, die mit beiden Beinen im Leben stehenden, die Menschenkenner, kurz die anderen, also die, von denen man meint sie blicken immer durch, meistern jede Situation, auch die können „solche Signale“ meist nicht interpretieren und brauchen eine „klare Ansage“.
Der Unterschied ist nur, dass sie meist meinen irgendwas zu verstehen, irgendein Signal richtig deuten zu können. In mindestens 50 % der Fälle liegen sie falsch.
Das geht mir auch nicht anders. Verpasste Chancen, falsche Reaktionen, schlicht auf die Fresse zu fallen gehört einfach dazu zum Leben.
Ist weiter nicht erwähnenswert.
JO
P.S. So eine Geschichte wie Du hier beschreibst hat wahrscheinlich jeder schon in der ein oder anderen Form erlebt.
Die Welt ist eben NICHT StarTrek, nicht heil und sauber und Menschen haben sich lieb. Und Gut und Böse demaskieren sich immer zuverlässig nach der Werbepause der emphatischen Counsulerin. Zum Glück ist das so, sonst wäre es langweilig.
22. April 2014 at 16:49
Trenddiagnose Autismus? http://www.deutschlandfunk.de/autismus-wird-zur-trenddiagnose.709.de.html?dram:article_id=238635
25. April 2014 at 18:44
@Das Nuf: Abgesehen davon, daß der Artikel einige Fehler enthält, sagt er am Schluß doch genau das richtige:
Fang schonmal damit an.
25. April 2014 at 18:47
@Johannes: Es ging hier nicht nur um ein Lächeln eines/einer Fremden an der Supermarktkasse oder in der Disco. Es ging hier um einen wochenlangen Kontakt. Das ist dann schon was anderes.
@JoachimA: Dann stellt sich doch die Frage, wieso diese Art der Signal-Kommunikation überhaupt verwendet wird, wenn die „Trefferquote“ doch so niedrig ist? Warum wird immer wieder erwartet, daß derjenige, der Signale gesendet bekommt, sie auch verstehen muß? Um klar zu kommunizieren, muß ich nicht ins Star-Trek-Universum reisen.
3. Mai 2014 at 14:27
@dasnuf
Ein Artikel, der offensichtlich so zusammengewürfelt ist, dass er einer vorher gefassten Meinung des Journalisten entspricht und der in sich gar nicht konsitent ist, findest du hier als Kommentar angebracht?
Der Journalist kann sich ja nicht mal entscheiden, ob die Diagnostizierten nun gar kein Problem haben oder doch einfach lieber autistisch als doof sind.
Vielleicht lieber mal eine handfeste Quelle zur Hand nehmen? Wie das „Handbook of Autism and Pervasive Developmental Disorders, Diagnosis, Development, and Brain Mechanisms“, Seite 76: „The epidemic hypothesis emerged in the 1990s when, in most countries, increasing numbers were diagnosed with ASDs leading to an upward trend in children registred in service providers‘ databases that was paralleled by higher prevalence rates in epidemiological surveys. These trends were interpreted as evidence that the actual population incidence of ASDs was increasing (what the term epidemic means). However alternative explanations for the rise in numbers of children diagnosed with ASDs should be ruled out first before supporting this conclusion and include the following. […] However, trends over time in referred samples are confounded by many factors such as referral patterns, availibility of services, hightened public awareness, decreasing age at diagnosis, and changes over time in diagnostic concepts and practices. Failure to control for these confounding factors was obvious in previous reports […]“
Ich würde mir wünschen, dass ihr eure Vorurteile mal zu Hause lasst.