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Trend-Diagnosen

25. April 2014 um 19:32 Uhr von Atari-Frosch

Es scheint ein Spielchen zu sein, das sich wiederholt: Gehen die Diagnosen für eine psychische Krankheit, Störung etc. (also eine dieser „unsichtbaren Behinderungen“) nach oben, wird gern von einer „Trend-Diagnose“ gesprochen. Das hatten wir mit Depression, mit AD(H)S, mit Borderline, und jetzt eben auch mit der Trend-Diagnose Autismus.

Abgesehen davon, daß der Artikel des Deutschlandfunks einige Fehler enthält, stellt sich mir die Frage, was diese Behauptung eigentlich soll.

Wenn eine Krankheit oder Störung häufiger diagnostiziert wird, heißt das im allgemeinen, daß die Ursachen dafür gestiegen sind und/oder daß es bessere Diagnose-Möglichkeiten gibt und nun auch Patienten diagnostiziert werden können, bei denen das Problem vorher nicht erkannt worden war.

Der Ausdruck „Trend-Diagnose“ dagegen impliziert, daß Ärzte diese Diagnose geben, weil das halt grade Mode ist oder weil ihnen nichts besseres einfällt, obwohl mit den Patienten eigentlich gar nichts los ist. Am Ende kommt dann wieder dasselbe alte Diskriminierungs-Spielchen raus: Die Diagnose ist ja nur eine Trend-Diagnose, der hat doch gar nix, ist nur zu faul – man kennt das. Betroffene dürfen sich dann mal wieder anhören, daß sie sich doch gefälligst einfach zusammenzureißen hätten.

Zerlegen wir den Deutschlandfunk-Artikel mal:

Zwischen ein bis drei Prozent aller Menschen leiden demnach an einer Störung des Autismus-Spektrums.

Da darf ich den Autor mal eben auf die Leidmedien hinweisen. Ob jemand unter einer Krankheit, Behinderung oder Störung leidet oder sie einfach nur hat, hängt nicht von der Diagnose ab.

Weiter im Text:

„… darf eigentlich ja eine Krankheit nur dann diagnostiziert werden, wenn sie zu irgendeiner Form von Alltagseinschränkung führt, also dass entweder das Kind oder der Jugendliche da drunter leidet oder in dem Fall die Familie, oder sagen wir mal auch der schulische Erfolg durch die Krankheit auch nicht gewährleistet ist.“

Tja, und wenn's gar keine Krankheit ist, darf es gar nicht diagnostiziert werden? Falsch. Nicht weniges, was im ICD-10 steht, ist keine „Krankheit“ im klassischen Sinne, insbesondere, aber nicht nur, im Abschnitt F. Tip: Autismus ist keine Krankheit.

„… bei denen die Diagnose gestellt wurde, die aber auch sehr selbständig leben, einen Beruf nachgehen, eine Ausbildung haben und die in ihrem Alltag gut zurechtkommen, und die Diagnose aber trotzdem nicht weggeht, da würde man dann auch nicht von Eigenschaft sprechen, sondern weiter von Diagnose.“

Blah? Natürlich geht Autismus nicht weg. Ist ja nun auch eigentlich nichts Neues.

Hinzu kommt, dass viele pathologische Eigenschaften von Autisten sozial durchaus erwünscht sind. Wer sich detailreich mit dem Thema Erderwärmung auskennt, wer die Primzahlen zwischen Null und einer Million auswendig kennt, kann auf Partys durchaus Pluspunkte sammeln.

So er denn auf Parties gehen kann und sie nicht lieber meidet, um sich keinem Overload-Risiko auszusetzen.

Sich detailreich mit einem Thema auskennen und große Zahlenreihen oder anderes auswendig wissen, sind zwei Paar Schuhe. Ja, es gibt Autisten mit Spezial-Interessen. Aber die großen Auswendig-Lerner sind im allgemeinen eher Inselbegabte, die zwar auch autistisch sein können, aber es nicht unbedingt sein müssen.

Aber muss man sich deshalb gleich eine Autismus-Diagnose beim Psychiater abholen?

Als ob das so einfach wäre: Man schlappt mal eben beim Psychiater vorbei, und der macht das dann mit der Diagnose. Selten so gelacht. Gerade Erwachsene haben kaum eine Chance, an eine Diagnose auf Papier heranzukommen. Die wenigen Fachstellen, die die Diagnose stellen können, haben Wartezeiten von über einem Jahr. Das ist auch einer der Gründe, warum ich mich noch nicht um eine Diagnose auf Papier bemüht habe – und für mich selbst brauche ich das nicht schriftlich. Diejenigen, die sie auf Papier brauchen, machen das nicht zum Spaß, gerade, weil es so aufwendig ist.

„Tatsächlich ist es so, dass es für manche Eltern leichter ist, zu sagen, mein Kind hat Autismus als, es hat eine geistige Behinderung, […]

Wenn ein Kind oder generell ein Mensch eine Form von Autismus hat und zugleich geistig behindert oder lernbehindert ist, dann sind das wieder zwei Paar Schuhe. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Und: Was nu, Herr Autor? Krankheit oder geistige Behinderung? Und nochmal der Tip: Weder noch.

… womit wir wieder bei den Journalisten wären, die gerne das Positive des Autismus hervorheben.

Nein, womit wir wieder bei den Journalisten wären, die gerne in Schubladen denken.

Wie er richtig erwähnt, ist Autismus eine Spektrums-Störung. Das heißt, es gibt keine zwei Autisten mit denselben Auswirkungen. Das kann so weit gehen, daß man sich zwei Autisten aus dem Spektrum herausgreift, ihre Symptome vergleicht und feststellt, daß es keine Übereinstimmungen gibt – und trotzdem sind beide Autisten.

Doch damit sind die steigenden Diagnosezahlen alleine nicht zu erklären. Ein weiterer Grund ist, dass immer mehr Ärzte immer mehr über Autismus wissen.

Das ist zu hoffen, denn bei Journalisten klemmt's da ja noch gewaltig. Andererseits scheinen sich die neuen Erkenntnisse überwiegend auf Kinder zu beschränken, denn Erwachsene werden damit weiterhin nicht ernst genommen. Ja, auch von Ärzten.

Die Diagnose allein ist dann nur der Anfang. Danach geht es darum, wie den Betroffenen, falls nötig und erwünscht, geholfen werden kann. Aber darüber spricht man dann wohl wieder nicht so gerne.


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