#nospiritofhealth Kassel 2015 – Tag 1
28. April 2015 um 17:11 Uhr von Atari-Frosch
Christian und ich fuhren morgens zusammen zum KongressPalais, wo nach und nach Leute von der Giordano-Bruno-Stiftung und vom Deutschen Konsumentenbund auftauchten. Es wurden ein Pavillon und ein paar Klapptische aufgebaut; Sitzgelegenheiten gab es keine.
In der ersten Kongreßpause kamen dann die ersten Kongreßbesucher vorbei – nein, nicht, um sich zu informieren, sondern um uns zu erklären, daß wir ja alle keine Ahnung hätten.
Atari-Frosch @AtariFrosch
Ein, ähm, Kongressteilnehmer am Infostand textet uns mit Quantenzeugs, diffamierender Presse & schlimmer Pharmalobby zu. #nospiritofhealth
Also: Die Presse diffamiert den Kongreß nur, wir sind alle von der Pharmalobby bezahlt, und außerdem ist Quantenphysik der neueste heiße Scheiß. Oder so. Ein danebenstehender, pensionierter Physiklehrer winkte nur ab: „Hört mir bloß auf damit!“
Der bösen Presse gaben wir mittlerweile ein paar Interviews: Den Hessischen Rundfunk habe ich gesehen, Hitradio FFH und ein Journalist von der HNA liefen bei uns herum. Außerdem tauchte noch ein Team von drei Jugendlichen auf, die ein Praktikum bei einem Bürgerradio oder so was ähnliches machten, und stellte auch Fragen.
Bevor sie in die Stadthalle ging, kam eine Frau zu uns, die sich selbst als „Aura-Arbeiterin“ bezeichnete (die Ausstrahlung von Menschen kann ich auch so wahrnehmen, aber mit einem so schönen Begriff klingt es halt interessanter). Sie deutete an, von der Veranstaltung in der Halle nicht so überzeugt zu sein, aber sie wolle es sich halt mal ansehen. Als sie später wieder herauskam, kam sie wieder zu uns und erzählte, es würde sich auch bei den Vorträgen um reine Verkaufsveranstaltungen handeln. Fragen seien nicht vorgesehen, Kritik nicht erlaubt.
Atari-Frosch @AtariFrosch
Die Aura-Frau erzählte, daß sie nach der ersten Kritik-Äußerung zwei Security-Gorillas im Nacken gehabt hatte. #nospiritofhealth
Als sie dann an den Ausstellungsständen Infomaterial sammelte, habe sie eine Ausstellerin danach gefragt, welchen Beruf diese hätte. Die Ausstellerin sei daraufhin völlig ausgeflippt und habe sie verbal angegriffen, und ab diesem Zeitpunkt seien ihr, der Besucherin, ständig zwei Security-Männer nachgelaufen, bis sie die Halle wieder verlassen habe. Freundlicherweise hat sie uns dann ihre Tüte mit Info-Material überlassen: Ein ganzer Stapel Bullshit in gedruckter Form, mit ausführlichen Produktbeschreibungen und natürlich Preislisten.
Die Aura
Der menschliche Körper ist von einem Energiefeld umgeben, das auch aurisches Ei genannt wird. Es schützt uns unter anderem gegen Eindringlinge aller Art (Erreger, Energien usw.)
Wir haben mit Hilfe der geistigen Welt drei Aura Sprays [sic!] entwickelt, die unser Energiefeld schützen und reparieren können.
Neben Sprays, Tees, Bädern und allerlei seltsamen, teils elektronischen Geräten gab es natürlich auch Bücher. Dabei sind auch solche über MMS und Schwarze Salbe, aber auch über Wunderpflanzen, Vitalpilze, eine „natürliche“ Anti-Baby-Pille, heilige Pflanzen und sogar über eine Pflanze der Unsterblichkeit. Veröffentlicht wurden diese Bücher wohl von kleinen, darauf spezialisierten Verlagen oder direkt vom Jim Humble Verlag.
Was uns die Humble-Anhänger so erzählten, war allerdings teilweise auch, ähm, sagen wir mal, abenteuerlich. Man könnte auch sagen, erfunden. Oder eben: gelogen.
Atari-Frosch @AtariFrosch
MMS-Jünger behauptet, es habe in 30 Jahren nur 5 Fälle von Vergiftungen gegeben, davon keiner tödlich. #nospiritofhealth
Behaupten kann man ja viel. Im ARD Morgen-Magazin heißt es in diesem Beitrag, daß allein die Giftnotrufzentrale Göttingen in den letzten Jahren 18 Notrufe im Zusammenhang mit MMS hereinbekommen hatte. Und es gab mindestens einen Todesfall: So berichtete der Examiner am 18. Januar 2011 vom Tod einer Frau im August 2009. Silvia Fink wollte sich mit MMS von den Folgen der Ölkatastrophe der „Deep Horizon“ heilen und starb – am MMS, nicht an den Folgen der Ölkatastrophe.
Atari-Frosch @AtariFrosch
Eine Frau mit bayerischen Dialekt sagte, sie habe ihre 3 Kinder mit MMS von Autismus "geheilt". Die Kids tun mir so leid #nospiritofhealth
Ich wurde später darüber belehrt, daß es ein österreichischer Dialekt gewesen sei. Die Bayern mögen mir das Versehen verzeihen.
Die Frau erzählte, ihr Sohn habe immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen und „zwei Wochen nach einer Impfung“ die Sprache wieder verloren. Und jetzt habe sie drei gesunde Kinder, dank MMS. Ob jetzt nur ein Kind oder alle drei autistisch gewesen sein sollen, blieb irgendwie offen.
Den Kopf gegen die Wand zu schlagen oder die Sprache zu verlieren sind Anzeichen von akutem Streß. Zumindest das zweite kann auch bei erwachsenen Autisten noch vorkommen.
Wenn ein autistisches Kind, das mit Einläufen traktiert wird, denen Bauchkrämpfe und Durchfall folgen, daraufhin mit solchen Verhaltenweisen aufhört bzw. sich bemüht, doch wieder zu sprechen, nimmt man ihm nicht den Streß, sondern erhöht diesen. Natürlich kann man auch einem autistischen Kind beibringen, daß es keine so gute Idee ist, mit dem Kopf gegen eine Wand zu schlagen. Dazu gehört aber auch, andere Möglichkeiten aufzuzeigen oder, wenn es noch andere kennt, diese anzuwenden. Nimmt man ihm aber das Stimming vollständig, dann bleibt – ein gebrochener Mensch, bei dem man auf die Depressionen oder andere Krankheiten nur warten kann.
Ich habe gerade über diese Frau ziemlich viel nachgedacht und bin zu folgenden Ergebnis gekommen:
- Die Frau wirkte rhetorisch geschult, ließ niemanden ausreden und wirkte insgesamt sehr angriffslustig.
- Möglicherweise ist ihre Geschichte vollständig erfunden und dient nur dazu, Mütter von wirklich autistischen Kindern dazu zu animieren, MMS zu kaufen und es an ihren Kindern anzuwenden.
- Wenn die Geschichte nicht erfunden war, dann hat sie uns gegenüber vermutlich eine Straftat zugegeben. Wenn sie erfunden war, dürften ihre Äußerungen immerhin noch eine Anstiftung zu einer Straftat sein.
- Es dürfte nicht ganz so grundlos gewesen sein, daß sie so extrem auf ihr Recht am eigenen Bild gepocht hat …
Kaum war die Frau weg, kam der nächste Kandidat – ein Dampfplauderer, wie er im Buche steht:
Atari-Frosch @AtariFrosch
Ein anderer Typ hält uns Vorträge über Chemie (wie er sie sieht). #nospiritofhealth
Auf dem Thema Natriumhypochlorit, Natriumchlorit oder Natriumchlorid hackte nicht nur dieser Herr herum, aber er ganz besonders. Rhetorisch geschult wie ein Profi-Vertriebler auf Kaffeefahrt ließ er niemanden ausreden, wich Fakten ständig aus, konnte selbst nichts nachweisen („Gucken Sie doch nach!“), forderte aber für alle Gegenargumente sofort stichhaltige Beweise. Dabei stellte er sich auf den Standpunkt, was von „Big Pharma“ finanziert und/oder von „Massenmedien“, Wikipedia oder Psiram verbreitet wird, schon mal gar nicht stimmen könne. Auch das Argument, es käme nicht so sehr darauf an, wer eine Studie bezahlt, sondern, ob sie sauber durchgeführt worden war und ein ordentliches Peer Review durchlaufen hat, zählte für ihn nicht. Umgekehrt argumentierte (nicht nur) er, daß Studien mit Placebo-Gruppe ja gar nicht gingen, weil dann ja ein Teil der Studienteilnehmer nicht mit dem tollen neuen Medikament behandelt würden und dann vielleicht sogar sterben müßten.
Mich hat der Mensch an ein Erlebnis aus dem Zeitraum 1987/88 erinnert. Ich war ja nach meiner ersten Ausbildung erwerbslos geworden und hatte neben direkten Bewerbungen auch Anzeigen im SperrMüll, einer Zeitung für teils kostenlose Kleinanzeigen, geschaltet. Auf so eine Anzeige hin meldeten sich dann Herren, die mir eine Umschulung zur Finanzberaterin für den AWD anbieten wollten. Die einen gegen Geld, die anderen, ganz großzügig, kostenlos. Ich habe mich dann irgendwann mal überreden lassen, obwohl ich auch damals schon genau wußte, daß ich nicht zum Verkäufer tauge. In der dann besuchten Schulung hielt ich weniger als den ersten Vormittag lang durch. Fragen und Kritik, die ich anbrachte, wurden abgebügelt; ich müsse unbedingt ein bestimmtes Buch lesen, um zu verstehen. Bei mir schlug damals schon der Bullshit-Detektor an, obwohl ich das Wort noch gar nicht kannte. Das war alles so falsch und wirkte so gestellt und verlogen, daß es mich fast physisch abgestoßen hat. Und genau so fühlte ich mich auch an diesem Wochenende, aber ganz besonders bei diesem Herrn. Der hätte damals ganz genau in diese AWD-Schulung mit reingepaßt.
Atari-Frosch @AtariFrosch
Mir kräuseln sich die Gehirnwindungen. #nospiritofhealth
Ich habe mich dann zeitweise in die „zweite Reihe“ zurückgezogen, weil das einfach nicht mehr zu ertragen war. Mit Dampfplauderern kann ich ja so schon nicht viel anfangen, weil ich die eigentlichen Informationen nicht mehr herausfiltern kann, wenn zu viel auf einmal kommt. Ich bekomme das dann einfach nicht mehr sortiert und kann damit auch nicht mehr adäquat reagieren – was aber wohl in diesem Fall auch Sinn der Übung ist.
Der Dampfplauderer hatte übrigens Begleitung: Solange er dastand und, ähm, „diskutierte“, also bestimmt eine halbe Stunde lang, wurden er und wir gefilmt. Zwischen ihn und seinen Gesprächspartnern auf unserer Seite – meist Guido Bockamp – wurde an einer langen Stange ein Mikrofon gehalten. Gefragt worden war vorher niemand, ob das genehm sei.

Unser Angebot: Heilige und heilende Nudeln, pastafaristische Medizin von der Kirche des Fliegenden Spaghetti-Monsters.
Das gleiche Kamerateam – ein Moderator, ein Kameramann und der Mikrofonhalter – baten mich später noch um ein Interview. Ich hatte mich bereits vorher als Autistin zu erkennen gegeben. Zunächst wollte ich allerdings wissen, für welchen Sender sie arbeiten. Die Antwort war ein verschwommenes „so alternative Medien“. Einen konkreten Sender konnten sie nicht nennen. Ich ließ mich halt mal drauf ein, so nach dem Motto, mal sehen, was da kommt.
Die Fragen waren schon ein Stück weit manipulativ, wenn auch nicht so massiv, daß ich direkt protestiert hätte. Offenbar hatten die Herren Erfahrung darin, wie weit sie gehen können, ohne daß ein Gesprächspartner das Interview direkt abbricht. Auf entsprechende Frage faßte ich nochmal zusammen, warum autistische Kinder bestimmte Dinge tun und was das bedeutet. Und natürlich, daß Autismus keine Krankheit ist und somit auch nicht geheilt werden muß. Der Moderator meinte, es sei ja vielleicht doch eine Krankheit, und sie würden „die Wahrheit“ suchen. Ahja.
Auch meine abschließende Frage, wann ich den Beitrag denn mal sehen könnte und wo, kam erstmal nur ein undeutliches „irgendwann, auch auf Youtube“. Der Mikrofonhalter schrieb sich schließlich meine Mailadresse auf und versprach, mich zu informieren, wenn der Beitrag online steht. Ich bin ja mal gespannt.
Nach dem Abbau lieh ich mir noch etwas Gaffa-Tape, in der Hoffnung, damit mein Luftbett zumindest notdürftig reparieren zu können. Leider scheiterte der Versuch, und ich mußte weiter auf dem harten Schlafsofa schlafen.
8. Mai 2015 at 21:29
Dein Interview findet man hier ab [30:14]
https://youtu.be/7VXxgTCvaN4?t=1814
8. Mai 2015 at 22:06
Danke, Du bist jetzt Nr. 3. 😉 Hab’s gestern schon gesehen und wollte es eigentlich nicht direkt verlinken. Nicht, weil ich mich dafür schäme, sondern weil ich den Herrschaften keine unnötigen Klicks verschaffen will.
Leider steht das Urheberrecht dagegen, das Interview da rauszuschneiden und separat nochmal online zu stellen. Diesen Triumph, mich über UrhG dranzukriegen, will ich denen jetzt nicht gönnen.
Was dort übrigens fehlt, ist mein Hinweis, daß Jim Humble ja nicht gerade arm ist und selbst ordentliche Studien finanzieren könnte – wenn er denn wollte. Für diese Aussage war in der, ähm, Reportage wohl einfach kein Platz mehr gewesen 😉