Autismus-Erkenntnis
22. September 2015 um 1:10 Uhr von Atari-Frosch
Wie ist das eigentlich, wenn man plötzlich erfährt oder feststellt, daß man im Autismus-Spektrum ist bzw. eine sogenannte Autismus-Spektrums-Störung (ASS) hat? Vor vier Jahren ist mir klar geworden, daß das, was mich „anders“ macht, einen Namen hat. Autismus. Und was es für mich bedeutet. Zeit für einen Rückblick.
Die Erkenntnis kam ja sehr plötzlich, etwa im August 2011. Ein Tweet in meiner Timeline, mit Link zu einem Blogartikel von einer Autistin. Den gelesen, nein: verschlungen. Auf dem Blog weitergelesen. Von dort durch Verlinkungen auf weitere Blogs gekommen, auf denen mehr erklärt wird. Und binnen weniger Stunden formte sich aus dem scheinbaren Chaos, das mein Leben bisher zeigte, ein Bild. Ein sehr deutliches. DAS ist es. DAS bin ich. Ich bin auch so.
Einige Symptome, die ich davor fälschlicherweise der (seit 2002 bestehenden) chronischen Depression zugeordnet hatte – obwohl sie schon vorher vorhanden gewesen waren –, stellten sich als typische Autismus-Symptome heraus. Andere, wie meine Direktheit, hielt ich für Charakterzüge, die man halt so hat oder auch nicht.
Auch das, was ich davor für eine Klaustrophobie gehalten hatte, ist keine. Denn es fiel schon auf, daß die Angst vor der Enge eben nicht zuschlug, wenn es nur eng war (wie zum Beispiel in kleinen Aufzügen), sondern immer nur dann, wenn auch (viele) Menschen außenherum waren: In vollen Bussen oder Zügen, am Ende von Veranstaltungen, bei denen alle Besucher gleichzeitig zum Ausgang drängten usw. Und häufig hatte ich vor den Attacken zusätzlich noch eine starke Streß-Situation gehabt. Dazu kam in vielen Fällen die bei Menschenmengen in geschlossenen Räumen üblicherweise stickige Luft. Das heißt: Das waren und sind Overloads. Die können natürlich auch Panik auslösen, allerdings hatte ich nicht immer richtige Panik. Auch der komplette Rückzug in mich selbst (shutdown) kam vor.
Was mich aber seit der Erkenntnis, daß ich im Spektrum bin, am meisten irritierte, war, daß die Autismus-typischen Symptome zuzunehmen schienen. Meine Fähigkeit, unter Leute zu gehen, nahm seitdem noch mehr ab. Ich muß auf noch mehr Dinge achten, wenn ich verreise (sofern ich es mir mal leisten kann).
Meine Vermutung war: Viele unerklärliche Eigenheiten haben jetzt einen Namen und einen Grund. Auf Dinge, die Namen und Grund haben, kann ich reagieren und mich anpassen. Solange es keine Namen und Begründungen gab, habe ich sie – teils unwissentlich – maskiert oder überspielt.
Und all das ist jetzt weg. Die unangenehmen Dinge haben Namen. Sie haben Gründe. Und ich kenne Möglichkeiten, die Probleme damit zu reduzieren. Die Masken sind gefallen.
In den Artikeln zum Thema Autismus, die ich mit dem letzten Im Netz aufgefischt gesammelt hatte, fanden sich gleich zwei Autoren, die das Phänomen ebenfalls beschreiben:
Die AS-Diagnose hat mein Identitätsgefühl völlig erschüttert und verändert. Hatte ich vorher eine Art „Scheinidentität“ oder „Berufs-Ich“ ausgebildet, die mir all die Jahre ermöglicht hatte, mein Berufsleben zumindest nach außen hin recht gut zu absolvieren, so brach diese Identität mit der Diagnosestellung völlig in sich zusammen. Ich funktionierte nicht mehr und konnte nicht mehr arbeiten.
(Quelle: Hochfunktionaler Autismus: Erschütterte Identität, Deutsches Ärzteblatt, September 2015)
und
Einerseits war die Diagnose Asperger eine unglaubliche Erleichterung – endlich hatten meine vielfältigen Probleme einen „würdigen“ Namen. Rückblickend betrachtet machte plötzlich vieles einen Sinn, ließ sich schlüssig erklären. Nach anfänglichen Zweifeln bekam ich, wie viele andere, eine Art „autistischen Schub“ – ich versuchte nicht mehr krampfhaft, mich in allem anzupassen, gestand mir selbst Schwächen zu. Ich las viel zum Thema und fand mich in vielen Aspekten wieder.
(Quelle: Mein Asperger, Intelligenzbestie, ohne Datum)
Für den Effekt braucht es natürlich keine „offizielle“ Diagnose; die Erkenntnis genügt, wie ich feststellen muß. Das heißt aber auch: Auch das ist nicht ein individuelles Problem von mir, sondern ziemlich normal. Mit der Erkenntnis, egal ob sie nun mit einer Diagnose daherkommt oder nicht, wird erst klar, was man alles versteckt hat, aber nun nicht mehr verstecken muß.
Auch wenn damit ein scheinbarer Verlust an „Funktionsfähigkeit“ verbunden ist, muß das nicht unbedingt ein Nachteil sein: Auf das, was man kennt, kann man sich einstellen. Auch wenn das der Umgebung vielleicht nicht immer so paßt und es mehr Umstände macht.
Die Erkenntnis heißt aber auch, die damit verbundenen Vorteile bewußter zu erkennen und zu nutzen (zum Beispiel Mustererkennung und Hyperfokus). Das geht allerdings nur, wenn man auch die Möglichkeiten dazu bekommt; die bekommt man mit der Diagnose bzw. der Erkenntnis leider nicht mitgeliefert.
22. September 2015 at 3:31
Interessant, dies zu lesen. Ich fühle mich dem sehr verbunden. Ich bekam meine Diagnose vor etwa 7 Jahren nach einer langen Tortur durch Arztpraxen, Therapiezimmern und Kliniken. Ich leide nicht unter Autismus, aber an einer "Krankheit" (ich würde es so nicht bezeichnen), die sehr ähnliche Symptome zeigt. Es ist gut, zu erkennen, warum man so vollkommen anders ist und nie ganz in diese Welt gehört, egal wie man sich auch bemühen mag. Du darfst aber nicht den Fehler machen, dich auf diese „Krankheit“ zu reduzieren. Du bist einzigartig, auch wenn du autismustypische Züge hast.
Ich für meinen Teil habe mich ebenfalls damit abgefunden, heraus zu fallen aus der Norm. Mittlerweile fühle ich mich damit weitgehend wohl.
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