Volkskrankheit Depression
22. Oktober 2015 um 14:23 Uhr von Atari-Frosch
Alexander Schestag @AlexSchestag
Auch für @AtariFrosch: Die Depression ist zur Volkskrankheit geworden, Menschen verlieren ihr Leben durch Anpassung. m.spiegel.de/karriere/beruf…
Atari-Frosch @AtariFrosch
@AlexSchestag Erkenntnisse, die ich längst habe. Der Autor blendet allerdings den massiv einschränkenden Faktor Geld aus.
Alexander Schestag @AlexSchestag
@AtariFrosch ja, vielleicht weil er mit Karrieremenschen zu tun hat, die eh genug verdienen. Oder er geht im Buch drauf ein. Interessant ...
Alexander Schestag @AlexSchestag
@AtariFrosch ... finde ich, dass die Erkenntnis langsam ernsthaft diskutiert wird.
Bereits vor zehn Jahren formulierte ich die Erkenntnis: Viele Menschen werden deshalb depressiv, weil sie nicht sein dürfen, was sie sind.
Martin Wehrle schreibt im oben verlinkten Artikel:
Und doch weigert sich das Glück, bei uns einzuziehen. Denn tief innen fragen sich viele: "Was hat dieses Leben eigentlich mit mir zu tun?" Immer mehr Menschen fühlen sich im falschen Film. Vier von zehn Deutschen geben an, die Qualität ihres Lebens nehme ab. Hinter hektischer Aktivität, hinter lächelnden Gesichtern, hinter makellosen Fassaden gähnt ein Abgrund aus Sinnlosigkeit. Die Depression ist zur Volkskrankheit geworden, Menschen verlieren ihr Leben durch Anpassung.
Die Schlußfolgerungen, die er daraus zieht, betreffen allerdings nur einen Teil der Gesellschaft:
Wie kann es sein, dass unser Funkkontakt zum eigenen Herzen heute so schnell abreißt? Wir haben eine Armada technischer Geräte erfunden, um Zeit fürs Eigentliche zu gewinnen.
Vielleicht hat es wirklich, wie Alex meint, etwas mit seinem Beruf zu tun, daß er einen wesentlichen Faktor ausblendet. Wehrle nennt sich „Karriereberater und Gehaltscoach“. Das heißt, er hat üblicherweise mit Menschen zu tun, deren Existenzgrundlage durch ihre Arbeit gesichert ist. Mit Menschen, die sich keine Gedanken darüber machen müssen, ob sie in einem halben Jahr obdachlos sein könnten oder bereits nächsten Monat ohne Strom und Heizung, weil das ARGE sich mal wieder was ausgedacht hat, um sie schnell und effektiv loswerden zu können.
Richtig ist:
Die Frage lautet nicht: Was wäre gut für mein Leben?
Die Frage lautet: Was wäre gut für meinen Lebenslauf?
Worauf er nicht eingeht, ist die Ursache dieser Einstellung. Unser Lebenslauf ist so dermaßen wichtig, weil er der Schlüssel zu einem (besseren) Arbeitsplatz ist. Wer Brüche im Lebenslauf hat, vielleicht Krankheitszeiten, Zeiten der Erwerbslosigkeit oder auch nur Mutterschaftszeiten, der steht schon schlechter da. Wir lernen ständig und nicht nur von Arbeitsagentur und ARGE, daß wir die perfekte Bewerbung und den perfekten Lebenslauf haben müssen, weil wir sonst bei den Personalern sofort untendurch sind. Es gibt sogar eigens Berater zu dem Zweck, Lebensläufe zu „schönen“.
Das wiederum ist existentiell, weil wir einen – ordentlich bezahlten – Arbeitsplatz brauchen, um eben nicht von solchen Behörden abhängig zu sein, die uns vollständig ins Prekariat, in die absolute Verunsicherung stürzen. Die Situation der Erwerbslosen drückt selbst auf diejenigen durch, die einen guten, sicheren, ordentlich bezahlten Job haben. Daß genau solche Leute am schlimmsten auf die „faulen“ Erwerbslosen schimpfen, ist schon wieder ein anderes Thema; sie erkennen nicht oder wollen nicht erkennen, daß sie dem gleichen Druck unterliegen wie diejenigen, welche sie damit herabwürdigen.
Martin Wehrle irrt, wenn er schreibt:
Doch der Fortschritt entpuppt sich als Geiselnehmer: Er entreißt uns einem stimmigen Leben, raubt uns Zeit für Reflexion. Wir surfen gegen die Brandung der Informationsflut an, stürzen uns in Chats, twittern Banalitäten in Echtzeit um den Globus, skypen uns ans andere Ende der Welt und sitzen täglich im Schnitt über vier Stunden vor dem Fernseher.
Es ist nämlich nicht der Fortschritt, der uns in Geiselhaft nimmt. Im Gegenteil, dieser technische Fortschritt könnte allen in der Gesellschaft zu wesentlich mehr Wohlstand und zum Abschied von Unsicherheit, Druck und daraus resultierenden Depressionen bieten.
Das Problem ist die ungleiche Verteilung dieses Fortschritts. Ein großer Teil davon kommt bei Millionen von Menschen allein hier in Deutschland gar nicht oder nur als „bei anderen wegen zu alt aussortiert“ verspätet an.
Das Privileg, einfach auf Knopfdruck die Heizung einschalten zu können, hat man auch nur dann, wenn diese nicht abgeschaltet wurde, weil das Amt gerade mal wieder meint, das Existenzminimum nicht ausbezahlen zu müssen – oder weil der Niedriglohn mal wieder so niedrig ausfiel, daß es eben nicht reicht. (Ja, diese Leute könnten jetzt theoretisch zum ARGE gehen und aufstocken. Aber wer setzt sich wegen 20 € oder 50 € im Monat diesen ständigen Unsicherheiten und Schikanen aus? – Eben.)
Würde mir oder einem beliebigen anderen Erwerbslosen oder Niedriglöhner die Frage gestellt, die Wehrle seiner 39jährigen Klientin gestellt hat, sähe die Antwort sehr anders aus.
"Angenommen, Ihr Leben wäre in sechs Monaten vorbei - wie würden Sie Ihre letzte Zeit verbringen?"
Ich würde, teilte ich das dem ARGE mit, vermutlich wegen Unvermittelbarkeit sofort meine Ansprüche verlieren und müßte mich dann mit dem anderen Repressionsamt, dem sogenannten „Sozialamt“, herumschlagen. Dieses hat natürlich auch kein Interesse, mich noch für ein halbes Jahr durchzufüttern, also wird es meine Antragsunterlagen „verlieren“ (im Strafgesetzbuch heißt das Unterschlagung, aber die Staatsanwaltschaften interessiert das ja genauso wenig wie Petitionsausschüsse), das Verfahren verschleppen, mich nicht über meine Rechte aufklären und mich statt dessen belügen.
Währenddessen hätte ich spätestens nach zwei von den sechs Monaten keinen Strom, keine Heizung und auch keinen Internetzugang mehr. Einen weiteren Monat später hätte man zumindest bei vielen Vermietern die Kündigung der Wohnung im Briefkasten, denn die Wohnung kann bereits gekündigt werden, wenn zwei Monate lang keine Miete bezahlt wurde. Bis mein Leben tatsächlich zu Ende wäre, wäre ich auf Lebensmittelspenden von netten Leuten angewiesen und würde in meiner stromlosen – und je nach Jahreszeit kalten – Wohnung herumsitzen, weil ich nichts mehr tun könnte, sofern ich mein Leben nicht schon vor Ablauf der sechs Monate selbst beenden würde, weil die Depressionen nicht mehr auszuhalten wären.
Aber selbst, wenn ich bis zum Schluß weiter Leistungen beziehen könnte, brauchen wir von der Erfüllung letzter Wünsche nicht zu reden. Daran wäre nicht einmal zu denken!
Denn nicht jeder Erwerbslose oder Niedriglöhner hat das Privileg, so gut vernetzt zu sein wie ich, wo dann doch mal Freunde oder Bekannte einspringen, um das zu übernehmen, was die Ämter einem an Rechten und Ansprüchen verweigern. Die Grundrechte auf Menschenwürde, Leben und Gesundheit gelten schon lange nicht mehr für die „Nutzlosen“ oder die, die das Pech haben, für ihre Arbeit nicht ordentlich bezahlt zu werden und keine Alternativen zu finden.
Oder anders: Das Leben in die eigene Hand zu nehmen und sich von dem ach so wichtigen Lebenslauf zu verabschieden, ist überhaupt nur denjenigen möglich, die trotzdem keine Angst um ihre Existenz haben müssen, und das auch nur dann, wenn nach der Existenzerhaltung immer noch genug Geld übrig ist, um sich die benötigten Veränderungen und Freiheiten zu verschaffen.
Alex hat Recht, wenn er sagt, es sei interessant, daß die Erkenntnis endlich mal öffentlich diskutiert wird. Vergessen werden dabei aber diejenigen, die am stärksten im Kreuzfeuer stehen und am anfälligsten sind für Depressionen.
Welchen Zusammenhang Depressionen und Hartz IV haben, sieht man sehr gut an einer Studie aus der Schweiz:
«Pro Jahr steht weltweit etwa jeder fünfte Suizid direkt oder indirekt mit Arbeitslosigkeit in Verbindung»
Die Verteilung, so heißt es in Hartz IV Todesopfer im Der Freitag, sei recht gleichmäßig und hinge auch nicht an Kriterien wie Religion, Geschlecht oder Alter.
Wenn wir das auf Deutschland umrechnen, kommen erschreckende Zahlen zum Vorschein:
Im Jahr 2011 starben in Deutschland 10.144 Menschen durch Suizid (12,4 je 100.000 Einwohner),[21] auf dem Tiefststand 2007 waren es 9.402 Personen (11,4 je 100.000 Einwohner), […]
[…]
Die Zahl der Suizidversuche liegt gegenüber den vollendeten Suiziden im Mittel um einen Faktor 10 bis 15 höher, also bei etwa 100.000 bis 150.000.
Zitate aus Wikipedia: Suizid, letzte Änderung vom 19. Oktober 2015 um 23:43 Uhr.
20 % von 10.144 sind 2.028 Menschen. 2.028 Menschen, die vielleicht noch leben könnten, wenn wir noch einen Sozialstaat hätten. Und das gilt nur für 2011. Seit 2007 steigen die Suizidzahlen wieder an bzw. fallen im Gegensatz zu vorher zumindest nicht mehr; anfangs hieß es noch, das sei bestimmt kein neuer Trend.

Anzahl an Suizid-Sterbefällen in Deutschland 1980 bis 2011; Bild: Wikipedia-User Bertram72, Lizenz: CC-BY-SA 3.0 nicht portiert
Destatis meldet für 2013 unter der Bezeichnung „vorsätzliche Selbstbeschädigung“ 10.076 Fälle (Quelle: [PDF] Todesursachen in Deutschland, 2013). Das heißt: Nachdem bis 2007 die Suizid-Zahlen beständig zurückgegangen sind – auch aufgrund einer besseren fachärztlichen Versorgung, der Enttabuisierung psychischer Erkrankungen und Verbesserungen bei der methodischen Erfassung –, stiegen sie ab 2008 wieder an und blieben seitdem mindestens auf diesem erhöhten Niveau.
Auch auffällig ist, daß es zwischen 2000 und 2002 schonmal einen Stillstand in der vorherigen Abwärts-Kurve gab. Was war da nochmal?
Zwischen 2000/2001 und 2005 stieg laut Destatis die Erwerbslosenquote kräftig an: Arbeitslosenquote in Deutschland im Jahresdurchschnitt von 1995 bis 2015. Und die schweizer Studie sagt aus, daß „der Anstieg der Suizidrate dem der Arbeitslosenrate um etwa sechs Monate vorausging.“ (Quelle: Artikel im Der Freitag). So ein Zufall.
(Unabhängig davon darf man die Erwerbslosenzahlen ruhig generell etwas höher ansetzen, als Destatis das hier macht, denn Destatis kann auch nur die Zahlen der Bundesarbeitsagentur übernehmen, die wiederum bekanntermaßen geschönt sind.)
Also: Allein seit 2008 rund 2.000 Tote jedes Jahr wegen Hartz IV. Und davor – seit 2005 – sogar noch mehr pro Jahr. Und Ihr sagt, das sei kein Faschismus?
Aber zurück zum Autor des Ausgangsartikels:
Jetzt saß sie aufrecht. Ihre Hände flogen beim Sprechen, sie lachte. Aus der Leblosen war eine Lebendige geworden. Das erlebe ich oft: Menschen leuchten, wenn sie über ihre Herzenswünsche sprechen; und sie erlöschen, wenn sie nur nachplappern, was die Gesellschaft ihnen einflüstert.
Ja, natürlich. Wir aber müssen über alle Menschen reden, die durch gesellschaftliche, arbeits- und sozialpolitische Umstände in die Depression getrieben werden, und nicht nur über diejenigen, die als „wertvoll“ in der Gesellschaft, der Wirtschaft und in der Politik wahrgenommen werden; alles andere spaltet. Denn gerade die so „Aussortierten“ sind besonders anfällig nicht nur für Depressionen an sich, sondern auch für die schlimmstmögliche Folge dieser Krankheit.
Diejenigen, die von diesen Zuständen profitieren oder sie aus sonstigen Gründen gut finden und, sofern sie in entsprechenden Positionen sind, fördern und verstärken, sind verdammt nochmal mitverantwortlich für diese Toten, genauso wie für mindestens 20 % all derjenigen, die nach einem überlebten Suizidversuch mit dauerhaften Behinderungen leben und sich dann mit noch mehr antisozialen Bürokratie-Monstern herumschlagen müssen, um weiterhin existieren zu „dürfen“.
Über Depression als Volkskrankheit allein zu reden, greift zu kurz: Wir müssen – öffentlich und intensiv – über die Ursachen reden, um diese letztendlich zu beseitigen.
22. Oktober 2015 at 14:57
Du hast mit deinen Ausführungen ganz und gar recht. Allerdings würde ich nicht sagen, dass Wehrle Unrecht hat, wenn er schreibt „Doch der Fortschritt entpuppt sich als Geiselnehmer …“. Vielleicht muss man das präzisieren: „Der Fortschritt entpuppt sich bei nicht wenigen Menschen durch eine problematische Mediennutzung als Geiselnehmer …“. Dass die ungleiche Verteilung des Fortschritts ein großes Problem ist, ist auch richtig. Aber das meint Wehrle ja nicht. Er sagt damit nur, dass die Art, wie viele die Medien nutzen, nicht den Zeitgewinn und die Konzentration auf uns bringen, die wir uns davon erhofft haben. Und da ist durchaus was dran. Sicher, nicht der Fortschritt per se ist dann der Geiselnehmer, sondern der problematische Umgang damit.
Darüber hinaus würde ich deine Ausführungen bezüglich Erwerbslosen, obdachlosen Menschen usw. nicht als Widerspruch zu Wehrle auffassen, sondern als richtige und notwendige Ergänzung. Gesamtgesellschaftlich muss man weiterdenken. Aber er redet ja für eine bestimmte Gruppe von Menschen durchaus über die Ursachen von Depressionen. Der Artikel befasst sich ja mit Karriereplanung. Das heißt, sein Fokus liegt nicht auf den von dir behandelten Problemen. Man kann kritisieren, dass er das übergeht, man kann es aber auch erst mal so hinnehmen und die Debatte in deine Richtung ausbauen. Ich würde dafür plädieren, weil wir, glaube ich, beides brauchen. Auch Menschen, die vielleicht vordergründig erfolgreich in Lohn und Brot stehen, leiden zunehmend unter der Verunmenschlichung der Arbeitswelt und der Gesellschaft an sich. Sonst käme es bei ihnen nicht zu den von Wehrle beschriebenen Phänomenen.
Wahrscheinlich ist die Lösung für beide Gruppen sogar dieselbe: Ein anderes System, das den Wert eines Menschen von seiner Arbeitskraft entkoppelt und ihm unabhängig von Karriere die Möglichkeit gibt, sich zu entfalten. Man kann durchaus hoffen, dass sich die Erkenntnis auch für die von dir genannten Menschen durchsetzt, wenn sie sich mal für Menschen durchgesetzt hat, die Karriere machen.
26. Oktober 2015 at 13:18
@Alex, bedeutet das (ein anderes System), dass es um eine Wertedebatte geht? Wessen Werte sind das dann?
Entkopplung des Werts eines Menschen von der Arbeitskraft, ich verstehe ja, was Du meinst. „Der Wert eines Menschen“. Doch Marx redete von der „Entfremdung von der Arbeit“ als Problem. Wer keine Arbeit hat, der ist übrigens vollkommen „entkoppelt“. Das Gegenteil ist also der Fall. Arbeit und Leben sind identisch, eine Einheit, ein Grundrecht, Bedingung für Selbstbestimmtheit. Eine Bedingung, die nicht erfüllt ist. Und das führt etwa zu Depressionen, aber auch zur sozialen Kälte, Mobbing und Diskriminierung.
Es geht nicht um Werte. Es geht um Prioritäten. Die setzen die, die an den Prioritäten verdienen. „Du musst leistungsfähig sein“, etwa und damit „https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeitsleistung“ meint. Das ist die Sicht derer, die die Prioritäten für sich setzt. Prioritäten, denen sich sogenannte „Arbeitnehmer“ unterwerfen müssen. Selbst „Arbeitgeber“ (also die, die eigentlich – nicht nur – unsere Arbeit nehmen) kommen da nicht raus und wenn sie noch so sozial eingestellt sein sollten. Denn sie müssen verdienen um nicht pleite zu gehen. Es ist ein selbsterhaltendes System. No way out.
Jemand, der das irgendwie nicht erfüllen kann oder will, der ist draußen. Entziehen kann man sich dem selbst dann nicht, wenn man in den „Wald“ ziehen will. In den Wald zu ziehen ist übrigens keine Lösung. Denn dies ist auch mein Land.
Eine langfristige Lösung wäre es also, Menschen zu gestatten, sie zu motivieren und es ihnen zu ermöglichen, sich ihr Land zu gestalten…
26. Oktober 2015 at 20:31
@Alex: Generell Zustimmung dazu, daß wir ein anderes System brauchen, aber Einspruch hierzu:
So ungefähr wie Trickle-Down? Das hat ja auch ganz toll funktioniert. Nicht. – Oder anders ausgedrückt: Verbesserungen für (Gut-)Verdiener kommen eben nicht automatisch (ggf. auch später) bei Sozialleistungsempfängern an. Im Gegenteil, da heißt es dann schnell: Ja die haben das nicht verdient, die brauchen das nicht.
Wir brauchen ja auch zum Beispiel keine Steigerung beim Rentenanspruch, deshalb wird ja für Hartz-IV-Empfänger seit ein paar Jahren nichts mehr in die Rentenversicherung eingezahlt. Das ist auch nur noch für die, die „nützlich“ sind. Oder nimm Verbesserungen im medizinischen und zahnmedizinischen Bereich, die trotz aller bewiesenen (besseren) Wirkungen nur privat versicherten oder selbstzahlenden Menschen vorbehalten sind, die sich das leisten können.
So nebenbei ist die Gruppe, mit der sich Wehrle befaßt, nun nicht gerade die Risikogruppe für Depressionen, zudem solche Menschen durchaus echte Möglichkeiten haben, ihre Situation aus eigener Kraft zu verändern. Mir kommt die Phrase vom Jammern auf hohem Niveau in den Sinn, womit ich allerdings die Wirkung einer Depression, unabhängig von der Situation, ausdrücklich nicht herunterspielen will.
@Joachim: Nimm mal statt Arbeit den Begriff Teilhabe. Dann wird’s klarer. Ich kann durchaus mit Tätigkeiten, die andere nützlich finden, an der Gesellschaft teilhaben; von Geld ist dabei ja noch nicht die Rede. Unter Arbeit wird aber ja eher das verstanden, was wir tun müssen (oder was von uns erwartet wird), um Geld zu verdienen; die Frage danach, ob wir diese Arbeit als sinnvoll empfinden, darf ja heutzutage trotz Art. 2 und 12 GG quasi nicht mehr gestellt werden.
Kann der Mensch, wie das Grundgesetz das vorsieht, seine Tätigkeiten (Art, Zeit, Dauer) wirklich selbst wählen, dann findet auch keine Entkoppelung statt. Je stärker uns die Arbeit vorgeschrieben wird und je weniger Mitsprache wir haben, desto entkoppelter sind wir auch davon, Stichwort „innere Kündigung“.
Ansonsten erscheint mir, daß Alex eine Zukunftsvision beschreibt, während Du eher die Realität wiederzugeben versuchst.
26. Oktober 2015 at 21:15
@Joachim ich stimme Frosch hier zu. Und Marx hatte m. E. Unrecht. Arbeit und Leben sind eben nicht identisch. Und doch, es geht um Werte. Ich zitiere da mal aus einem sehr guten Artikel:
Quelle: http://www.grundeinkommen.ch/bedingungsloses-grundeinkommen-ein-verrat-an-der-arbeiterklasse/
@Frosch ich hatte diesen Einwand erwartet. 🙂 Und ja, er wird leider richtig sein. Die Befürchtung, dass ich da wohl vielleicht ein wenig zu optimistisch war, kam leider erst nach dem Absenden. Um deinen Einwand mal anders zu formulieren: Ja, Top-Down wird nicht funktionieren. Wir brauchen das entweder gleich für alle oder Bottom-Up.
27. Oktober 2015 at 14:19
Alex, diese Argumentation verstehe ich nicht. Man kann von Marx halten, was man will, doch der Vorwurf er wolle Arbeiter „verkaufen“ zu wollen ist absurd. Natürlich kann man Marx vollständig falsch finden und auch subjektiv werten. Doch bitte, dann mit minimalen Belegen. Der Artikelausschnitt oben belegt nichts, widerspricht aber den Quellen. Ohne Dir zu nahe treten zu wollen, ich halte den Artikel für irrelevant und dumme Meinungsmache
Real geht es um Mitbestimmung, Teilhabe, Identifikation mit der Arbeit. Es geht darum „niemanden zurück zu lassen“. Denn morgen könnte Dein Erfolg von dem abhängen, den Du dummerweise zurück gelassen hast.
Wenn es ein Recht auf Arbeit nicht gibt, so bedeutet das doch, dass ich nicht zwingend arbeiten kann. Ich habe ja kein Recht darauf. Das bedeutet, „Arbeitgeber“ gewähren mir eine Gnade, dafür, dass wir ihnen ihr Haus, ihr Boot, ihren Luxus erschaffen. Eine seltsam verquere und feudale Sicht. Der Besitz von Produktionsmitteln macht einen nicht zu einem besseren Menschen und schon gar nicht zu einem Menschen mit mehr Rechten. Im Gegenteil, das Grundgesetz sagt „Eigentum verpflichtet“.
Real ist: Erfolgreiche Arbeitgeber wissen genau, wie wertvoll verlässliche und kompetente Mitarbeiter sind. Ihnen ist klar, das wir an einem Strang ziehen, wenn ein Unternehmen bestand haben soll. Es ist sinnvoll, etwas Sinnvolles gemeinsam zu tun. Nur so wird es produktiv. Und zwar für alle „Seiten“.
Dummerweise verweigern wir einer Mehrheit diesen Sinn. Wir verbieten ihnen, sich selbst zu verwirklichen. Wir werfen Potential weg und stürzen Menschen in prekäre Situationen. Mangel wird kanalisiert um Profite zu maximieren. Selbst für Firmen schaffen wir Situationen, die sie zwingen, Kosten massiv zu optimieren und strangulieren Sie letztlich damit. Schon mal versucht, als mittelständische Firma hinreichend Rücklagen zu bilden? Schon gar, wo Kredite so viel billiger sind… Kurzfristiges Denken mit fatalen Folgen, wenn man das Geld wirklich braucht. Dann sind plötzlich die Banken weg.
Es ist wie im Fussball: ohne neue Spieler einstellen zu können gehst Du unter.
Heute geht es nicht um Sinn, nicht um Gestaltung. Es geht nur um Profit. Kurzfristiges Denken für kurzfristiges Geld für kleine Geister. 1% Idioten richten 99% des Schadens an. Nach mir die Sintflut. 1% sind die, die aus meiner Sicht wirklich asozial sind. Die kleinen Hartz IV’ler könnten alle Drückeberger sein, so wie es einige „Konservative“ immer noch zu behaupten wagen, den Schaden der 1% könnten sie niemals anrichten.
Ich kann schon verstehen, wie man da depressiv werden kann.
28. Oktober 2015 at 12:49
Kleiner Nachtrag. Meine Kritik an dem von Alex zitiertem Artikel könnte implizieren, ich sei gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen. Das stimmt so nicht. Ich bin nur gegen eine falsche „Argumentation“.
Ich denke, in der Diskussion mit Alex gibt es weitere Missverständnisse. Meine Schuld. Sorry Alex, ich bin nur ein Mensch.
@Frosch: Mit Deinem Vorschlag „Teilhabe“ triffst Du den Nagel auf den Kopf. In der Realität, im Jetzt kannst Du ohne Arbeit nur sehr schwer (wenn überhaupt) Teilnehmen oder Teilhaben. Denn Du wirst bestenfalls „organisiert“, drehst Dich im Rädchen der ARGE und in einer Spirale nach unten, verlierst Arbeit, Freunde, Lebensqualität und Sinn. Das ist ein Vorgang, der irgendwann an die Gesundheit geht. Wörtlich stirbst Du früher, wenn Du keine „Arbeit“, keine Teilhabe mehr hast.
Frosch, wenn Du in dieser Situation die Frage nach der Zukunft stellst, ich denke, dann ist vollkommen klar, was gar nicht geht.
28. Oktober 2015 at 19:37
@Joachim
Ja, genau. Da sind wir völlig einer Meinung!
Nein, darum geht es eben nicht! Denn wer sagt bitte, dass Mitbestimmung und Teilhabe von der Fähigkeit zu arbeiten abhängen müssen?
Auch das ist wieder richtig. Aber wenn wir Teilhabe und Mitbestimmung von der Fähigkeit zu arbeiten abhängig machen, lassen wir all jene zurück, die nicht arbeiten können. Genau das ist im Moment der Fall. Und deswegen müssen Teilhabe, Mitbestimmung und jeden mitnehmen von Arbeit entkoppelt werden. In diesem Sinne ist der Artikel mitnichten irrelevant. Man soll eben nicht davon abhängig sein, sich verkaufen zu müssen, um leben zu dürfen.
Das halte ich nun wieder für irrelevant. Es geht nicht um meinen Erfolg. Es geht um den Menschen, der ein menschenwürdiges Leben verdient hat.
Ich denke, dass unser Missverständnis auch darin liegt, dass du vom jetzigen System her argumentierst. Da macht deine Argumentation mit Recht auf Arbeit durchaus Sinn. Ich aber gehe von einem anderen System aus, das ein Recht auf Arbeit obsolet macht. Denn in diesem System bekommt jeder die Mittel, genau das zu tun, was sein Potenzial ausschöpft – wiederum zum Wohle der Gesellschaft. Das muss dann nämlich auch keine Arbeit im klassischen Sinne der Erwerbsarbeit sein. Das kann ehrenamtliche oder künstlerische Tätigkeit sein. Und hier sind wir wieder bei dem Artikel. Der Zwang, sich für den Broterwerb zu verkaufen, fällt weg.
30. Oktober 2015 at 10:12
Vielen Dank Alex. Es wird klarer. Ich denke, das „Missverständnis“ geht nur um Begriffsdefinitionen. Frosch hat das ja schon gut gesagt: „Nimm mal statt Arbeit den Begriff Teilhabe“. Dann sind wir gut beieinander.
Ich habe mich ein wenig dagegen gesträubt. Nicht weil das falsch wäre. Sondern weil das danach klingen könnte „der/die Arme, kann nicht arbeiten. Wir müssen ihn/sie wenigstens teilhaben lassen“. Was ja auch nicht so falsch ist.
Es wird aber falsch, wenn man anfängt zu werten. Und es wird falsch, wenn man sich selbst damit irgendwie „höher“ stellen möchte.
Eine Leistungsgesellschaft wertet aber. Dazu noch mit Kriterien, die persönliche Vorteile abbilden. Das reduziert Menschen in unerträglichem Maß auf „menschliche Ressourcen“.
Ich bin der Meinung, das sich unter diesen Bedingungen nicht arbeiten lässt. Von Teilhabe muss ich da erst gar nicht reden.
Wie gesagt: Begriffsdefinitionen. Inhaltlich liegen wie nicht wesentlich auseinander.