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Das Paradies auf Erden

13. Oktober 2016 um 15:00 Uhr von Atari-Frosch

Nur falls jemand glaubt, die SPD habe noch irgendwas mit Sozialdemokratie zu tun: Es gibt da eine Bundestagsabgeordnete der SPD, die sogar im Sozialausschuß des Bundestages sitzt, namens Gabriele Hiller-Ohm. Und die zeigt uns gerade so richtig, wie asozial und menschenverachtend die SPD geworden ist.

Christel T., @JCaktiv, hatte Frau Hiller-Ohm nämlich erklärt, „Mit #H4 werden die Menschen richtig hilflos gemacht (noch mehr seit den #Rechtsverschärfungen)“, und @InfraRotGirl hatte ergänzt: „Ja , und wer kennt diese Hilflosigkeit und Ohnmacht besser als Du und ich...Existenzangst macht krank und kaputt ..“. Frau Hiller-Ohm meinte, daraufhin Victim Blaming betreiben zu müssen:

Gabriele Hiller-Ohm @GabiHillerOhm
@JCaktiv @InfraRiotGirl Herrgottnochmal, dann tut doch was! Dieses Gejammer von Hilflosigkeit in einer Demokratie geht mir auf den Senkel!!

12:42am · 12 Oct 2016

Diesen Tweet zitierte ich und merkte an:

Atari-Frosch @AtariFrosch
Das sagt eine von der @spdbt, welche die Hilflosigkeit mit #hartz4 erst verursacht hat. Schiere Menschenverachtung. SPD will unter 5 %.

2:14pm · 12 Oct 2016

Darauf erhielt ich bzw. erhielten wir folgende Antwort:

Gabriele Hiller-Ohm @GabiHillerOhm
@AtariFrosch @spdbt @JCaktiv @InfraRiotGirl Sie tun ja gerade so als hätten wir vor Hartz IV das Paradies auf Erden gehabt. Realitätsverlust

12:05pm · 13 Oct 2016

Interessante Unterstellung. Wo hab ich das behauptet?

Mal in aller Direktheit (ja, dafür verfluchen mich einige): Das ist keine Erklärung für irgendwas. Es ist nicht einmal eine Ausrede. Nicht einmal eine dumme Ausrede. Das ist einfach nur der plumpe Versuch, die Opfer der eigenen asozialen, wirtschaftsfaschistischen Politik für ihre Situation selbst verantwortlich zu machen und zu glauben, daß diese Opfer das dann schon schlucken und das Maul halten werden.

Nein, tun sie nicht, Frau Hiller-Ohm, denn die Opfer – Ihre Opfer – sind arm, aber nicht doof.

Und nein, wir hatten vor Hartz IV natürlich nicht das Paradies auf Erden. Im Gegenteil, schon Jahre vor Hartz IV wurde an Sozialhilfeberechtigten ausprobiert, wie man Menschen aus dem Sozialsystem hinausdrücken und sie ungestraft verrecken lassen kann.

Ich vermeide übrigens bewußt das Wort -Empfänger, weil das Passivität vermittelt und verschweigt, daß es hier um gutes Recht geht; genauso wie ich nicht „Arbeitslose“ sage, weil das den Eindruck vermittelt, die Leute säßen den ganzen Tag herum und wüßten nichts mit sich anzufangen. Die Leute haben aber keine Langeweile, sondern kein Geld und keine sinnvolle Möglichkeit, sich selbst regelmäßig welches zu erarbeiten. Zumindest nicht legal.

In den Jahren 2000 und 2002 erlebte ich, wie die Behörde, die sich offiziell kackfrech „Sozialamt“ nennt, durch systematisches Verschwindenlassen von Unterlagen versuchte, mich und meine Grundrechte zu ignorieren. Im November 2000 erfuhr ich bereits, und das ist ein wörtliches Zitat des Papiere unterschlagenden Sachbearbeiters: „Grundrechte gelten für Sie nicht, Sie sind bedürftig.“

Im Jahr 2002 führte das zu einer akuten, schweren Depression und zum Verlust meiner Wohnung. Weitere Schikanen – trotz bekannter, mittlerweile chronischer Depression – brachten mich 2004 bis kurz vor den Suizid.

Diese systematische Unterschlagung von Unterlagen mit dem Ziel, Menschen obdachlos zu machen oder direkt in den Suizid zu treiben, ist seit 2004 durch die Verschiebung von Mitarbeitern von den „Sozialämtern“ in die ARGEn auch dort angekommen – und diese Praxis der verschwindenden Papiere ist seit über einem Jahrzehnt ein offenes Geheimnis, das auch die Sozialrechtsanwälte gut kennen.

Aber wenn man Strafanzeige wegen Unterschlagung stellt, weil Briefe aus dem Hausbriefkasten (!) nicht bei der Akte angekommen sind, dann zuckt die Staatsanwaltschaft mit den Schultern und sagt: „Nuja, es ist halt nicht angekommen“ und ermittelt gar nicht erst. Auch das hiesige Sozialgericht schloß sich dieser Ansicht an. Staatsanwaltschaften, Sozialgericht, zwei Petitionsausschüsse, ein Journalist und meine Anwältin wurden damals vom ARGE teils wiederholt belogen, und bis auf den Journalisten und meine Anwältin haben das alle brav geglaubt. Es hätte wohl zu viel Arbeit gemacht, dem mal wirklich nachzugehen (wer ist nun eigentlich faul, Erwerbslose oder Behörden und Petitionsausschüsse?).

Sowas wie Rechtsstaat gibt es für uns Leistungsberechtigte halt einfach nicht mehr. Denn wenn man den Sozialstaat zerschlagen will, was die SPD (nicht nur) mit Hartz IV offenbar im Sinn hatte und hat, dann muß man auch den Rechtsstaat erodieren lassen, sonst funktioniert das nicht.

Das geht übrigens noch weiter: Als Mitgesellschafterin einer Unternehmensgesellschaft (UG haftungsbeschränkt) wurde ich ab 2013 dazu genötigt, quasi die komplette Buchhaltung der Firma dem ARGE mitzuteilen, damit das ARGE meinte, ermitteln zu können, welche Beträge ich mir monatlich einfach so da rausnehmen sollte – um die Leistungen daraufhin prompt um diesen angeblich mir zustehenden Betrag zu kürzen.

Dazu muß man wissen: Die UG ist als Kapitalgesellschaft wie eine GmbH eine eigenständige juristische Person (vertreten durch den Geschäftsführer), und man sollte glauben, es sei völlig logisch, daß ein Gesellschafter von dem Geld, welches die UG einnimmt, nicht einfach ohne Beschluß der Gesellschafterversammlung etwas herausnehmen darf (Untreue, Diebstahl).

Genau das meinen aber nicht nur ARGEn, sondern sogar Richter beim Sozialgericht, also Volljuristen, ignorieren zu dürfen. Diesen sollte man nun wirklich unterstellen können, daß sie mal einen Blick in ein anderes als das Zwangsarbeits- und Zwangsverarmungsgesetz (SGB) werfen, wenn ein zweites Rechtsgebiet berührt wird. Aber das haben Sozialrichter offenbar nicht nötig, wie ich nicht nur aus eigener Erfahrung weiß, sondern auch von anderen erfahre.

Gab es das vor Hartz IV, Frau Hiller-Ohm? Also daß eine Behörde nicht nur selbst in aller Selbstverständlichkeit Gesetze bricht, sondern sogar Bürger zu Gesetzesbrüchen nötigt und Gerichte dem auch noch zustimmen? Oder daß Staatsanwaltschaften bei Gesetzesbrüchen von Sozialbehörden einfach wegschauen?

Man muß sich ja generell darüber im Klaren sein, daß Hartz IV nicht ganz alleine steht. Es kam quasi zusammen mit der – auch von der SPD gewollten und mitgetragenen – Entfesselung des Turbo-Kapitalismus'. Es kam zusammen mit der Aufweichung der Arbeitnehmerrechte, von Zeitarbeits-Regulierungen bis zur Förderung des Niedriglohnsektors, auf den der damalige SPD-Bundeskanzler Schröder ja so stolz war. Mittlerweile sind Arbeitnehmerrechte genauso wie Tarifverträge nur noch Makulatur, weil ein Arbeitgeber jederzeit sagen kann: „Wie, Du willst keine unbezahlten Überstunden machen? Du willst nicht für 6 € die Stunde arbeiten? Hau ab, das ARGE wird mir schon neue willige Sklaven liefern, die nicht anders können, weil sie sonst gar nichts mehr haben.“ – um dann erstmal drei Monate vom ARGE vom Leistungsbezug ausgesperrt zu werden, weil man die Erwerbslosigkeit ja selbst herbeigeführt habe …

Das ARGE – das Amt für Repression, Grundrechtsentzug und Existenzvernichtung. Genau das, was Sie und Ihre SPD haben wollten. Glauben Sie im Ernst daran, daß dort noch Arbeit vermittelt wird, abgesehen von unterbezahlter, prekärer Leiharbeit? Auf welcher Seite ist da jetzt der Realitätsverlust?

Sich juristisch zu wehren, ist fast nicht mehr möglich. Daß Verfahren nicht nur vor den Sozialgerichten, sondern auch den Arbeitsgerichten wesentlich länger dauern, als man ohne Geld seine Wohnung halten kann, kommt sowohl Repressionsämtern als auch Arbeitgebern sehr entgegen. Man kann Gesetze natürlich so bauen, daß viele gegen ihre Anwendung bzw. ihren Mißbrauch werden klagen müssen, und dann die Gerichte nicht entsprechend aufstocken – aber dann hat man halt unter Umständen keinen Rechtsstaat mehr. Und weil das nicht genügt, wird seit Jahren darüber diskutiert, die Möglichkeiten durch die Einführung von neuen Gerichtsgebühren noch weiter einzuschränken. Danke auch.

Und dann kommen Sie, Frau Hiller-Ohm, mit „Gejammer von Hilflosigkeit in einer Demokratie“? Wie soll sich jemand bitte politisch einbringen können, wenn er regelmäßig gegen das ARGE um seine Existenz kämpfen muß? Wenn die Depressionen, die dadurch verursacht wurden und verstärkt werden, zur (gewollten?) Handlungsunfähigkeit führen? Wenn jegliche Teilhabe nicht vorhandenes, nicht im Regelsatz vorgesehenes Geld frißt? Sie haben da leicht reden mit ihrer Abgeordneten-Diät, die sich alle zwei Jahre um etwa so viel erhöht, wie wir monatlich überhaupt nur bekommen! Mit zusätzlichen Spesenfreibeträgen in vierstelliger Höhe und einer BahnCard 100 obendrauf! Ist Ihnen schonmal aufgefallen, daß Sozialleistungsberechtigte all das gerade nicht zur Verfügung haben?

Der behauptete Realitätsverlust liegt klar bei Ihnen, verbunden mit der Tatsache, daß Sie sich ihrer Privilegien offenbar überhaupt nicht bewußt sind.

Daß wir vor Hartz IV nicht „das Paradies auf Erden“ hatten, ist absolut kein Grund dafür, daß Sie und Ihre SPD jetzt – immer noch! – mit Hartz IV Millionen von Menschen die Grundrechte entziehen dürfen, von der Menschenwürde über das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die Gleichheit vor dem Gesetz, die freie Wahl von Wohn- und Aufenthaltsort, Unverletzlichkeit der Wohnung bis hin zur freien Wahl von Beruf, Ausbildungs- und Arbeitsplatz incl. explizitem Verbot der Zwangsarbeit.

Aber wie es scheint, ist Ihnen wie allen Hartz-IV-Fans in Politik, Wirtschaft, Justiz, Exekutive und Gesellschaft die Erinnerung daran, daß unser Staat auf diesem Grundgesetz basiert, welches solche Rechte garantiert, völlig abhanden gekommen. Falls dieses Wissen überhaupt je vorhanden gewesen sein sollte.

Man könnte dem übrigens sogar sehr leicht abhelfen – vorausgesetzt, man möchte das überhaupt.

Bei Ihnen und der SPD generell habe ich da so meine Zweifel.


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Ein Kommentar zu “Das Paradies auf Erden”

  1. Katrina Reichert quakte:

    Nachdem das Amt für Repression, Grundrechtsentzug und Existenzvernichtung meine Anträge auf einen Bildungsgutschein mit hanebüchensten Begründungen (Fast wörtliches Zitat: „Weil die von Ihnen beantragt Maßnahme geeignet wäre, Sie wieder in Lohn und Brot zu bringen, kann sie nicht genehmigt werden.“) torpediert hat und mich seit 2012 am ausgestreckten Arm verhungern lässt, ist meine Gesundheit mittlerweile dermaßen im Eimer, dass an 2 von 3 Tagen schon der Gang zum Supermarkt 2 Straßen weiter meine Kräfte übersteigt, finde ich „Herrgottnochmal, dann tut doch was!“ einfach nur noch zynisch.

    Gabriele Hiller-Ohm sollte mal ein Quartal lang mein Leben leben, meine Hilflosigkeit, meine Depression und meine mittlerweile chronischen Schmerzen ertragen.
    Wenn sie das schafft, ohne vor Verzweiflung zu suizidieren, dann können wir nochmal über „Gejammer“ reden.


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