Anrede für nicht-binäre Menschen
25. August 2019 um 14:58 Uhr von Atari-Frosch
Seit ich vor etwa einem Jahr ein Gespräch mit einer durchaus gender-sensitiven Person hatte, geht mir eins nicht mehr aus dem Kopf: Wie spricht man nicht-binäre Menschen eigentlich an? „Herr/Frau“ paßt ja gerade zumindest in den meisten Fällen nicht. Und ich fühle mich mittlerweile sehr unwohl damit, mit „Frau“ angesprochen zu werden. Es ist halt nun mal falsch.
Die anfangs genannte Person fragte nämlich vor Beginn des eigentlichen Gesprächs tatsächlich nach, wie sie mich richtig ansprechen sollte, wenn die klassischen Anredeformen offensichtlich nicht zutreffen. Damals antwortete ich, tja, was das angeht, ist unsere Sprache leider ziemlich kaputt bzw. berücksichtigt nicht-binäre Menschen einfach gar nicht.
Wenn also auch der (gewählte) Vorname plus Sie-Form nicht in Frage kommen, was bleibt?
Heute morgen fiel mir eine für mich passende Form ein. Da ich frei bin von klassischen Geschlechtsrollen und das auch gleich mit der Anrede deutlich machen will, habe ich die Anrede „Freimensch“ gewählt. CC0, bedient Euch, wenn's Euch gefällt 🙂
Ich bin Freimensch Aurin Becker. (Der Nachname stört mich auch noch, aber mal sehen …)
27. August 2019 at 12:22
Hallo,
also ich freue mich, dass es Mann und Frau gibt. Ich finde das spannend und wir sollten endlich lernen im positiven Sinn die Unterschiede zu nutzen, natürlich ohne diejenigen auszugrenzen, die weniger damit anfangen.
Denn die Wirtschaft spricht eine ganz andere Sprache: Ü-Eier für Mädchen, Klamotten, usw. ist so viel gegendert, wie noch nie.
Und im guten möchte ich dir raten – das meine ich ganz ernst – manchmal ist es sinnvoll nicht zu viel über etwas nachzudenken, sondern einfach Freude am Leben zu haben. Wenn du dich nicht ganz in Mann oder Frau einordnen kannst, dann lass es doch und schimpfe nicht über die Deutsche Sprache, damit tust du allen unrecht, die hier ganz viel Arbeit investieren und investiert haben.
Grüße
28. August 2019 at 2:56
Sonst bin ich ja eher wortkarg, aber dem was @Marcus geschrieben hat, möchte ich doch noch folgendes hinzufügen:
Ich will niemanden zu nahe treten oder gar beleidigen, aber ich fand schon immer, es ist falsch sich damit zu beschäftigen eine Sprache zu verbiegen, weil die offiziellen Standard Formen einem nicht gefallen oder das Gewünschte nur sehr umständlich ausgedrückt werden kann. Mal ganz ehrlich, wohin führt das? Den meisten Leuten ist dieses verfremden und verbiegen der gewohnten Sprache nicht nur lästig. Statt einer Sensibilisierung für die eigentlichen Probleme, bewirkt es doch eher das Gegenteil: Frust und Ablehnung der sprachlichen Veränderung. Frust und Ablehnung, die viel zu leicht unbewusst auf das eigentliche Thema übertragen wird.
Es erscheint mir viel wichtiger endlich die Akzeptanz der betreffenden Themen in den Köpfen der Leute zu verbessern, etwa durch Aufklärung und Vermeidung von Indoktrination in jungen Jahren. Denn je höher die allgemeine Akzeptanz in der Gesellschaft für ein Thema wird, desto mehr wird darüber offen gesprochen. Wird über ein Thema offen gesprochen, so passt sich die Sprache im laufe der Jahre von ganz alleine an. Siehe allgemeine Entwicklung der Sprachen und Jugendsprachen.
Auf der anderen Seite wurden bewusste Veränderungen der Sprache immer wieder als Protest kleiner Gruppen von Leuten verwendet, die damit auffallen und sich zu gleich abgrenzen wollten. Doch hat diese Form des Protestes je wirklich etwas erreicht, im Sinne von zum besseren gewendet?
29. August 2019 at 15:19
Hallo Markus, Du übersiehst etwas. Ja, natürlich ist es schön, daß es Mann und Frau gibt, das will auch niemand abschaffen. Weggenommen wird uns, die wir nicht in diese Schubladen passen, sämtliche Akzeptanz unserer Identität, indem uns erklärt wird, daß man unseren gleichwertigen Anspruch, zum Beispiel den richtigen (gewählten) Vornamen, die richtige Anrede, die richtigen Pronomen usw. zu benutzen, ignoriert oder bestenfalls belächelt, wenn nicht direkt abwertet.
Daß es nicht nur Mann und Frau gibt, ist auch nicht erst seit letzter Woche bekannt, sondern seit fast 40 Jahren wissenschaftlich erwiesen. Sprache wandelt sich und muß sich an neue Erkenntnisse, Erfindungen oder Entdeckungen anpassen. Das geschieht so ziemlich überall – aber nicht bei den Geschlechtern. Hier kann ich nur vermuten, daß sogenannte „konservative“ oder eher reaktionäre Menschen (Typ „alte weiße Männer“) ihren Daumen drauf haben, damit sie ihr Weltbild ja nicht anpassen müssen und sie weiterhin ihre ach so bequemen Schubladen verwenden können. Sexismus ausdrücklich inclusive.
Nicht so viel drüber nachdenken? Ich unterstelle mal, Du bist männlich. Jetzt stell Dir mal vor, Du würdest ständig, überall und durchgehend als „Frau“ bezeichnet und angesprochen. Du korrigierst das, und beim nächsten Mal kommt wieder „Frau“ $Nachname, ein weiblicher Vorname oder ein weibliches Pronomen. Du wirst damit nicht als das akzeptiert, was Du bist. Wie würde sich das für Dich anfühlen? – Genauso geht es trans Menschen, egal ob binär oder nicht-binär. Und nicht nur gelegentlich, sondern ständig. Das nervt nicht einfach nur, sonder negiert Deine Identität.
Daß „die Wirtschaft“ lieber Schubladen nicht nur bedient, sondern auch noch zementiert, ist kein Argument für irgendwas. „Die Wirtschaft“ hat weder Geschlechter noch Geschlechtsrollenbilder zu bestimmen. Ich lese oft genug auf Twitter, wie Eltern in Läden gesagt wird, daß das, was sie gerade kaufen, nicht für ihr Kind geeignet sei, weil es das „falsche“ Geschlecht habe, und denke mir jedesmal, das geht Euch doch einen Scheißdreck an! Wenn das Kind das rosa T-Shirt mit dem Glitzer-Einhorn drauf haben will oder das Feuerwehrauto, dann ist es völlig egal, welchen Geschlechts es ist. Und das wiederum läßt sich gerade nicht daran ablesen, was es zwischen den Beinen hat oder wie es sonst aussieht.
Kinder können übrigens je nach Entwicklungsgeschwindigkeit zwischen dem 2. und 5. Lebensjahr sicher sagen, welchen Geschlechts sie sind – wenn sie frühzeitig entsprechende Informationen bekommen. Aber da kommen ja gleich wieder unsere „alten weißen Männer“ und faseln was von Frühsexualisierung.
Nochwas, damit’s da nicht gleich wieder ein Mißverständnis gibt: „Alter weißer Mann“ ist eine reaktionäre Geisteshaltung. Personen, die diese Geisteshaltung vertreten, müssen weder alt noch weiß noch männlich sein.
29. August 2019 at 15:40
Hallo SackOhneSenf, wie eben schon an Markus geschrieben: Sprache verändert sich ständig. Also muß sie sich auch bei neuen Erkenntnissen über Geschlechter anpassen, um uns nicht sprachlich weiterhin unsichtbar zu machen.
Über die Arten der Anpassung kann und muß man streiten, ja. Ich lehne beispielsweise alle Formen ab, die ein Zeichen mitten in ein Wort pappen, über das ich dann beim Lesen regelmäßig stolpere (und ich las von weiteren Menschen, gerade im autistischen Spektrum, die dasselbe Problem damit haben). Egal ob das ein Binnen-I ist, ein Sternchen, ein Doppelpunkt, Hochkomma oder statt des großen Binnen-I ein ï: Insbesondere längere Texte werden für mich dadurch unlesbar. Konsequenterweise habe ich das Plugin „Binnen-I-Be-Gone“ installiert, über das sich anfangs bei Einführung so viele Leute das Maul zerrissen haben. Das macht mir zumindest einen Teil der (in meinen Augen) so entstellten Texte wieder lesbar. – Und so nebenbei fühle ich mich damit auch weiterhin nicht angesprochen, denn abgebildet werden wieder nur Männer und Frauen.
Die Sensibilisierung, die Du forderst, geschieht allerdings durchaus auch über die Sprache. Wie will man die Akzeptanz für alle anderen Geschlechter etablieren, wenn die Sprache nur Begriffe für Mann und Frau hergibt? Mein Versuch, eine Anrede abseits von „Frau“ oder „Herr“ (zumindest für mich) zu etablieren, ist genau das. „Frau“ Becker unterstellt, daß ich eine solche sein müsse, was für die meisten Menschen impliziert, daß ich weibliche Geschlechtsrollenbilder zu erfüllen hätte (wobei die Vorstellung davon, wie diese auszusehen hätten, von Person zu Person durchaus nochmal differiert).
Weiterhin: Die Gruppe der nicht-binären Menschen ist – oder erscheint – klein, ja. Erscheint, weil ich mir darüber gar nicht so sicher wäre, gerade wenn man bedenkt, daß Kinder eben im allgemeinen nicht darüber aufgeklärt werden, daß es da noch mehr gibt und daß sie auch etwas anderes als Mädchen oder Junge sein dürfen. Ich hatte diese Erkenntnis erst vor etwa sechs Jahren. Ich bin jetzt 51. Zu wissen, daß ich nicht „Frau“ sein muß, wie es mir immer suggeriert wurde und weiterhin suggeriert wird, war für mich eine unglaubliche Erleichterung! Das kann man sich vielleicht nicht vorstellen, wenn man diese Zweifel nie hatte. Und einerseits als Mädchen/Frau behandelt zu werden und andererseits nie die Erwartungen, die daran geknüpft sind, erfüllen zu können, fühlte sich für mich schon als Kind falsch an und war belastend. Ich hatte aber nicht einmal Worte, um auszudrücken, was sich da so falsch anfühlte. Im Gegenteil, mir wurde sehr schnell beigebracht, daß ich fehlerhaft war, daß ich Dinge falsch machte. Und das lag keinesfalls nur am (ebenfalls nicht erkannten) Autismus.
Und nein, hier geht es ganz bestimmt nicht darum, auffallen zu wollen. Es geht schlicht um Gleichberechtigung. Einem cis Mann die Männlichkeit abzusprechen, gilt als Beleidigung. Einem trans Menschen – binär oder nicht-binär – die Zugehörigkeit zum eigenen Geschlecht abzusprechen (oder das Geschlecht selbst gar nicht erst zur Kenntnis zu nehmen), ist leider noch völlig normal. Nicht-binäre Menschen wollen nichts anderes als das, was für Männer und Frauen selbstverständlich ist: Unsere richtigen Namen, Pronomen und Anreden.
27. Mai 2021 at 0:24
Hallo Aurin,
während sich Sprache, vor alle die deutsche, welche sich frei unter dem Schirm ihrer zunächst Latein und dann Französisch sprechenden Feudaleliten entfalten konnte, durch die Mitteilungswünsche lebendiger Sprecher immer im Fluss war, ist noch immer jeder Versuch gescheitert, ihre gezielte Veränderung aus ideologischem Furor von oben repressiv erzwingen zu versuchen.
Massive Versuche dies zu tun, lancierten durch das gesamte 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhundert die deutschen Nationalisten, die das Deutsche im Antagonismus zu den romanischen Sprachen ausrichten wollten. Ihrem Ehrgeiz entsprach es nicht nur, aus dem Französischen entlehnte Wörter wie Blamage, Garage, Engagement, aber auch Onkel, Tante, Cousin und Cousine zu ersetzen, sondern auch eine umständlich gedrechselte ‚teutsche‘ Grammatik zu etablieren. Nichts, aber auch gar nichts ist davon geblieben.
Denn Sprache ändert sich niemals in Richtung hölzerner Umständlichkeit; auch ist der allgemeine Sprachgebrauch nicht darauf zu trimmen, das für das eigene Leben und Erleben schlicht Irrelevante in den Fokus alltäglicher sprachlicher Mitteilung zu implantieren,
Die Realität der menschlichen Geschlechtlichkeit ist nun einmal, dass wir nicht nur alle einer intimen Begegnung eines Mannes und einer Frau und in der Folge der Schwangerschaft unserer Mutter entstammen, sondern sich Selbstverständnis und Begehren von mehr als 99% der Menschen in gleicher Weise entwickeln – wie auch immer gesellschaftliche Normen geprägt sind.
Das bedeutet aber doch in keiner Weise, dass ein Mensch, der sich selbst innerhalb der binären Geschlechterstruktur nicht einordnen kann, als Mensch weniger wert ist. Denn auch für die überwältigende Mehrheit von Männern, die Frauen begehren, und Frauen, die es zu Männern zieht, leben mehrheitlich in mitmenschlichen Kontakt zu Menschen, auf die sich ihr Begehren gar nicht bezieht.
Nähe und Vertrautheit zu ihnen als Freunde, Kollegen, Genossen oder Nachbarn schließt doch keine wie auch immer geartete geschlechtliche Disposition aus. Für alle von uns ist doch die Anzahl der Menschen, die wir begehren, nur ein Bruchteil der Menschen, die für uns im Alltag wertvoll sind. Nur hindert mich das doch nicht daran, trotzdem die Welt sinnlich im Spannungsfeld von WEiblichkeit und Männlichkeit zu begreifen – und keiner guter Freund wird mich doch daran hindern wollen, dies zu tun, nur weil dieser Lebensbereich nicht der ist, der zwischen uns keine Rolle spielt.
Deshalb sollten nicht-binäre Menschen sich darüber im klaren sein, wie sie angesprochen werden wollen – wenn sie sowohl Herr wie Frau X für sich ablehnen, aber doch nicht erwarten, als ob die überwältigende Mehrheit aufhört, sich entweder als Männer oder Frauen zu empfinden und auch dieses Spannungsfeld sprachlich zu füllen. Denn genau das entspricht der Lebensrealität ihres Erlebens.
Meiner blinden Freundin schlage ich nicht in erster Linie Besuche in Galerien vor, sondern wir gehen in Konzerte zusammen. Auch bewunder ich ungeheuer ihr kraftvolles Geigespiel, sie aber kann es dennoch gut ertragen, wenn ich ihr begeistert von tollen Bildern erzähle – obgleich sie die nie sehen wird. Aber meine Begeisterung weckt auch ihre Vorstellungskraft. Ebenso erzähle ich meiner rollstuhlfahrenden Tochter auch von Kletterpartien, die ich mit meinem Mann in Mittelgebirgen unternehme.
Menschen sind vielfältig – sowohl in ihren Einschränkungen wie ihren höchst individuellen Meriten. Bei all dieser Vielfalt frage ich mich aber, was da ideologisch los ist, wenn nur eine Ausnahmeeigenschaft von dem Rest der Menschen verlangt, sie sollten das weite Gestaltugnsfeld der Sprache zu einem völlig durchgedrehten und sinnlich entkernten Hindernisparcour machen, nur weil es Menschen gäbe, deren sexuelles Selbstverständnis und Begehren sich darin nicht wiederfinde?
Das ist völlig durchgedreht – und, mit Verlaub, ein wenig unverschämt. Sprache ist das weiteste Feld der Selbstmitteilung dessen, was wir in Gänze sind. Das eine Mehrheit der Individuen nicht mehr sie selbst sein wollen, weil andere ihre eigene sprachliche Form noch nicht gefunden haben, ist jedenfalls nicht vertretbar. Und ein in diese Richtung wirken wollendes Sprachdiktat wird keine Chance auf Umsetzung haben. Eher wird es die Gesellschaft in einen Bürgerkrieg führen.
An der Oper Unter den Linden befindet sich das Denkmal für die unter den Nationalsozialisten vebrannten Bücher. Zwei Generationen deutscher Philologen hat daran gearbeitet, alle diese 10 000 Titel, die die braunen Barbaren verbrannt haben, wieder zusammenzustellen und dem Vegessen zu entreißen. Eine Zerstörung dieses Erbes, das schon einmal autoritärer Totalitarismus und die gegen unsere Sprache gerichtete Wut vernichten wollten, wird niemand, der diese Kunstwerke schätzt, auch nur im entferntesten hinnehmen.
Mit freundlichen Grüßen
Anja Böttcher