Parteitag mal anders
10. Mai 2021 um 16:04 Uhr von Atari-Frosch
An diesem Wochenende fand der erste Teil des ersten hybriden Bundesparteitags der Piratenpartei Deutschland statt. Eine gute Gelegenheit für mich, endlich mal wieder an einem Bundesparteitag teilzunehmen, ohne mit Reisekosten und -organisation belastet zu sein. Und ohne das Risiko, dann in einem Plenum zu sitzen, in dem um mich herum ständig geredet wird, so daß ich den zweiten Tag verliere, weil ich in der Nacht nach dem ersten zusammenbreche.
Dafür, daß es der erste so veranstaltete Bundesparteitag seiner Art ist, sieht das alles schon sehr gut aus. Natürlich lief noch nicht alles glatt. Zum Beispiel war da das ungültige Zertifikat des Mumble, in welches man anfangs reinmußte, um sich zu akkreditieren. Oder die eingeschränkten Netzkapazitäten vor Ort, die dem Jitsi (für öffentliche Wortmeldungen, Fragen, Reden, Vorstellungen etc.) offenbar gelegentlich Probleme bereiteten.
Aber es war nicht immer nur die Technik. Im Mumble stellte ich schnell fest, daß die Teilnehmenden dort nicht in der Reihenfolge ihres Connects akkreditiert wurden, sondern offenbar in völlig willkürlicher Reihenfolge. Während manche Piraten – auffälligerweise recht häufig die „bekannteren“ Namen – oft bereits wenige Minuten nach ihrem Connect in einen der Akkreditierungsräume „gezogen“ wurden, wartete ich ab 8:15 Uhr über 90 Minuten lang und kam dann nur deshalb dran, weil @NaturalBornChiller, der viel später rein-, aber trotzdem sehr schnell drankam, „seinen“ Akkrediteur auf mich aufmerksam machte. Sonst hätte es vielleicht noch länger gedauert. Warum bin ich eigentlich so früh aufgestanden, wenn ich dann doch nur die ganze Zeit über warten muß? Und ja, ich hatte einen der drei Akkrediteure nach ca. 75 Minuten direkt angeschrieben, war aber ignoriert oder übersehen worden. Hier wäre es sinnvoll, in Zukunft dafür zu sorgen, daß die Reihenfolge eingehalten wird. Ich könnte mir vorstellen, daß ein Bot möglich wäre, der die Leute in eine Liste schreibt und diese Liste dann systematisch abarbeitet und die Personen, die grade dran sind, in die entsprechenden Akkreditierungsräume schiebt. Mehr Leute für die Akkreditierung wären sicher auch gut gewesen; drei waren offensichtlich zu wenig.
Generell hat das Konzept natürlich Vor- und Nachteile. Für mich haben die Vorteile der Remote-Teilnahme insgesamt überwogen: Ich habe durchgehalten und hatte und habe auch heute keine Überlastungserscheinungen. Aber ich habe auch das Privileg, einen PC mit genügend „starker“ CPU zu besitzen und über eine schnelle und zuverlässige Internet-Verbindung zu verfügen. Erst vor ein paar Tagen bin ich in einen neuen Tarif gewechselt, der mir nun 500/50 mBit/s verspricht. Eigentlich wollte ich nur weniger pro Monat bezahlen, die schnellere Leitung gab's quasi versehentlich mit obendrauf. 😁
Daß man Reise- und ggf. Hotelkosten spart, muß man sich also andererseits mit relativ aktueller Hardware und einer guten Internetverbindung erkaufen. Wer die Reisekosten nicht aufbringen kann, wird aber meistens wohl eher zu den Menschen gehören, die sich auch aktuelles Equipment nicht kaufen können.
Auf die maximale Geschwindigkeit des eigenen Internet-Anschlusses haben aber auch wohlhabendere Menschen nicht unbedingt Einfluß, denn das hängt vom Wohnort ab. Es gibt halt immer noch Orte in Deutschland, an denen die Menschen pro Wohnung einen DSL-Anschluß mit maximal 16 mBit/s haben. So wurde bereits im Mumble gefragt, ob es einen Audio-Stream gebe, weil der vorhandene Anschluß nicht reicht, und im OpenSlides-Chat kam die Anfrage auch noch ein paarmal. Deutschland, #Neuland.
Für die Qualität der Internet-Anbindung und dafür, daß finanziell abgehängte Menschen keine aktuelle Hardware haben, kann die Piratenpartei ja nichts, im Gegenteil, das würden wir ja gern ändern. Trotzdem gibt es Punkte, die verbesserungswürdig und teilweise -fähig sind. Nicht alle davon betreffen mich persönlich, aber im Sinne guter Inklusion gehören sie für mich dazu:
- Barrierefreiheit 1: Menschen mit Hörproblemen
- Menschen, die nicht oder nicht gut hören, sind bei einer Veranstaltung, die primär auf akustische Kommunikation setzt, schlicht außen vor. Ein gehörloser Mensch hätte sich nicht über das Mumble akkreditieren lassen können. Ich unterstelle zwar mal, daß es auch für solche Menschen eine Akkreditierungsmöglichkeit gab – gesehen habe ich nichts davon, es wurde also nichts zu dem Thema kommuniziert, und das heißt, betroffene Menschen mußten bzw. müßten sich aktiv selbst darum bemühen.
- Vorschlag für die Zukunft: Live-Untertitel. In früheren Jahren hat @drahflow unermüdlich bei Parteitagen mitgeschrieben, primär allerdings wohl zu protokollarischen Zwecken. Denkbar wäre für mich hier ein Team aus Menschen, die schnell tippen können und die sich in relativ kurzen Schichten, zum Beispiel stundenweise, darin abwechseln, alles mitzutippen, was gesprochen wird. Ich könnte mir sogar vorstellen, in einem solchen Team mitzuarbeiten. Schnell tippen kann ich.
- Natürlich wären in den Live-Stream (oder separat davon) eingeblendete Gebärdensprachdolmetscher optimal, aber ich weiß schon, der Kapitalismus läßt das nicht zu.
- Und nur, falls jemand auf diese Idee kommt: Nein, die Ansage, das sei bei den Präsenz-Parteitagen ja auch meistens so gewesen, ist keine Entschuldigung.
- Barrierefreiheit 2: Menschen mit Sehbeeinträchtigungen
- Es ist leider nicht zu mir durchgedrungen, ob insbesondere die Abstimmungen im OpenSlides für blinde Menschen zugänglich sind. Die Chats dürften allein aufgrund der Tatsache, wie sie technisch aufgebaut sind, eher nicht für blinde Menschen zugänglich sein, das würde bedeuten, daß sie vor allem bei Helpdesk, GO-Anträgen und Front-Office außen vor wären. Ich lasse mich gern anderweitig belehren, aber es sah wirklich nicht danach aus.
- Die Chats wären vermutlich auf einem IRC-Server deutlich besser aufgehoben, gleich aus mehreren Gründen:
- Die Fensterinhalte „springen“ nicht, wenn jemand was neues schreibt. Das dürfte übrigens längst nicht nur sehbehinderte Menschen stören. Ich hatte zeitweise selbst Probleme damit.
- Man kann viel besser bzw. überhaupt früher Geschriebenes (nochmal) nachlesen.
- Es gibt Zeitstempel.
- Blinde Menschen können ihre Vorlese-Software drauf loslassen.
- Sehbehinderte Menschen können sich die Schriftgröße selbst frei einstellen.
- Und wer's braucht – ja, solche Menschen gibt's –, kann sich einen Dark-Mode aktivieren (das geht in OpenSlides offenbar nicht).
- Es sollte kein Problem sein, die Channel, die nur für Piraten bzw. akkreditierte Piraten zugänglich sein sollen, mit einem Paßwort zu schützen; dazu gibt es auch noch diverse weitere Moderationsmöglichkeiten. Ich schlage daher vor, die Chat-Kommunikation von OpenSlides weg auf einen klassischen, eigenen IRC-Server zu verlagern.
- Hardware-Anforderungen 1: CPU
- Ein schwieriges Feld, und natürlich mal wieder ein kapitalistisches Problem. Im OpenSlides-Chat erzählte jemand, seine Hardware könne kaum mithalten, sein Rechner sei etwa 15 Jahre alt. Ich konnte mir vor anderthalb Jahren einen gebrauchten PC mit einer 4-Kern-CPU (Intel Xeon) mit 2,7 GHz kaufen, und der hatte mit dem Setup schon ganz schön zu schnaufen. Regulär, das heißt, mit laufendem HexChat, Thunderbird und Firefox (mit Tweetdeck und Pluspora) ist die CPU-Last bei etwa 0.2 bis 0.3 und üblicherweise kein Kern mit mehr als 5 % belastet. Für die Teilnahme via OpenSlides mußte ich zusätzlich Chromium aufmachen (ich erklär gleich, warum), und auch der allein drückt die Last noch nicht wesentlich höher. Bin ich dann aber auf der Site mit OpenSlides, geht die CPU-Last auf 2.5 bis 3.0 hoch, die Kerne sind regulär jeweils über 40 %, und die Lüfter brüllen mich die ganze Zeit über an. (Chromium deshalb, weil ich ja damit rechnen mußte, gelegentlich ins Jitsi geholt zu werden, und da macht Firefox bei mir Probleme; ansonsten mach ich alles mit Firefox.)
- RAM ist übrigens wohl nicht so das Problem: die 16 GB hier wurden zwar stärker genutzt als sonst, aber es bestand zu keiner Zeit die Gefahr, daß das RAM vollief oder der PC gar anfangen wollte zu swappen.
- Achja, und:
TIL: Wenn man eine OpenSlides-Site im Browser (hier: Chromium) offen hat, besser ublock ausschalten, der drückt die CPU-Last hoch bzw. noch höher. #hyBPT211
— Aurin Azadi 🔴 #IchKannNichtMehr (@AtariFrosch) May 8, 2021
- Insofern keine Kritik an der Parteitags-Orga, aber ein Hinweis, daß es hier ein Problem gibt. Eventuell läßt sich das ja zumindest teilweise lokal lösen, indem Kreisverbände entsprechende Gerätschaften verleihen oder vielleicht sogar einen Zugang über das KV-Büro anbieten.
- Jemand hatte übrigens im OpenSlide-Chat erzählt, daß er mit seinem Smartphone keine Lastprobleme hätte. Well, schön für Dich. Nicht jeder Mensch hat ein Smartphone, nicht jeder hat eines, das aktuell genug ist, und ganz ehrlich, meinen Augen möchte ich das Mini-Gefummel nicht über Stunden zumuten. Selbst getestet habe ich deshalb nicht, wie meines damit klarkäme.
- Hardware-Anforderungen 2: Mikrofone
- Bei den Piraten, die remote einen Beitrag über Jitsi einbrachten, gab es häufiger (als IMHO notwendig) Probleme mit dem Audio-Equipment. Das ging von schlechter Verständlichkeit und massiven Nebengeräuschen bis hin zu Echo-Effekten. Es mag sein, daß auch die wohl etwas magere Anbindung des lokalen Veranstaltungsortes seinen Teil dazu gab, aber ich wünschte und wünsche mir wirklich, daß Leute ihre Ausrüstung vorher testen. Die Zeit aller anderen Teilnehmenden kann wirklich besser genutzt werden.
- Persönlich: Mein nicht neurotypisch verdrahtetes Gehirn versucht auch bei ganz schlechter Verständlichkeit oder mit Echo, da noch Informationen rauszufiltern, und muß sich dabei massiv anstrengen. Auf diese Attacken gegen meine Reizfilter würd ich echt gern verzichten.
- Internet-Verbindungen
- #Neuland, ich erwähnte es ja schon, ist ja eines der Kern-Themen der Piratenpartei. Hilft ja nix, wenn die deutsche Bundesregierung hier seit Jahrzehnten pennt und uns zu wenige wählen, um das zu ändern. Menschen mit langsamer und/oder unzuverlässiger Anbindung sind außen vor und müßten dann eigentlich wieder zu den lokalen Veranstaltungsorten reisen. Auch reine Audio-Streams kommen nicht für alle Menschen in Frage, und zu den Abstimmungen möchten die Akkreditierten ja auch kommen können.
Das Problem bei alledem ist, daß damit gerade die Menschen teilweise oder ganz ausgeschlossen werden, die von der Politik™ eh schon nicht gehört werden. Gerade in der Piratenpartei sollte der (virtuelle) Ort sein, an dem behinderte, chronisch kranke und/oder zwangsverarmte Menschen gehört und ihre Belange mit berücksichtigt werden.
Jetzt hab ich doch fast überwiegend „gemeckert“, dabei gab es auch Gutes:
- Allem voran Pawel Borodan als Versammlungsleiter, der ruhig, freundlich und geduldig durch die Versammlung führte und dabei auch den einen oder anderen guten Spruch brachte. All hail to Pawel! Bringt dem Mann nächstes Mal doch bitte ab und zu Kaffee und Kekse, OK? 😁
- Obwohl die Kommunikation ganz überwiegend akustisch war, wurde nicht durcheinander geredet. So entspannend! Auch wenn das teilweise einfach technisch so erzwungen wurde. Vielleicht merken ja auch die früheren Dauer-Quasselstrippen aus dem Plenum, wie angenehm das sein kann.
- Für neurodiverse Menschen, die öfter mal eine Auszeit brauchen, ist ein virtueller bzw. hybrider Parteitag ziemlich gut, denn man bleibt ja in der gewohnten Umgebung, und wenn's doch mal zu viel wird, wird der Browsertab halt einfach mal für eine Weile zugemacht. Also, vorausgesetzt, die technischen Notwendigkeiten sind erfüllt, und man kann den Browsertab überhaupt erst sinnvoll aufmachen.
So. Ich freu mich auf's nächste Wochenende, wenn der Bundesparteitag weitergeht. 😊
16. Mai 2021 at 5:00
[…] Gibt es eigentlich noch die Piraten? Ja freilich. Am Wochenende haben sie ihren ersten hybriden Bundesparteitag abgehalten. Alle Internetausdrucker wird es freuen, dass auch bei der selbsternannten Internetpartei nicht alles glatt lief. Die Atari-Frosch hat den Piratenparteitag in epischer Breite eingeordnet: Parteitag mal anders. […]