Von Twitter ins Fediverse
14. November 2022 um 11:10 Uhr von Atari-Frosch
Von Twitter auf Mastodon (oder generell ins Fediverse) zu wechseln ist so ein bißchen wie der Wechsel von Windows auf Linux. Erst erscheint alles furchtbar kompliziert, weil Du's seit mehr oder weniger langer Zeit nicht anders kennst, dann kann das eine nicht exakt dasselbe wie das andere, oder nicht auf die gleiche Art, oder Du mußt in ein anderes Menü und/oder die Funktion heißt anders. Aber wenn Du Dich reinfuchst, so wie Du Dich in das Gewohnte auch mal reinfuchsen mußtest, wirst Du merken, daß es 'ne Menge Vorteile hat.
Persönlich fand ich den Schritt jetzt nicht kompliziert, aber ich bekomme mit, daß es anderen da anders geht. Wenn man im Hinterkopf behält, daß Mastodon keine zentrale Plattform ist, sondern sich auf viele, meist privat betriebene Instanzen verteilt, die außerdem derzeit teilweise völlig überrannt und damit überlastet werden, wird einiges, was so kompliziert erscheint, recht schnell logisch erfaßbar.
In den letzten zwei Wochen ergab sich der nahezu komplette Wechsel für mich fast von alleine, schon dadurch, daß nach dem Kauf von Twitter durch Elon Musk plötzlich viele Menschen eine Alternative suchten und sich meine Timeline in meinem Mastodon-Tab quasi von alleine wieder aufbaute. Nicht komplett, das wird wohl auch nicht funktionieren, aber doch in einem Maße, das ich vorher nicht für möglich gehalten hätte.
Die Vorteile, die ich sehe:
- Den aggressiven Kommerz und die ständigen Werbeanzeigen werde ich wohl kaum vermissen.
- Die Leute sind echt nett und hilfsbereit – was nicht heißt, daß da nicht auch diskutiert und gestritten wird, aber eben … besser.
- Beschwerden über unangenehme Zeitgenossen kann man direkt an deren Server-Admin richten. Blocken oder Stummschalten geht aber natürlich auch.
- Instanzen, deren Admins auf Beschwerden nicht oder nicht angemessen reagieren und/oder von denen aus generell nur getrollt wird, kann man komplett blocken, sowohl individuell als auch als Server-Admin für die ganze eigene Instanz. Auf diese Weise werden unangenehme Instanzen mehr oder weniger isoliert und kriegen im Netzwerk keinen Fuß auf den Boden.
- Wenn man sich seinen Account auf einer Instanz klickt, die auf ein bestimmtes Thema spezialisiert ist, ist es noch leichter, Gleichgesinnte zu finden.
- Man kann nicht nur Accounts, sondern auch Hashtags folgen.
- Vertippt? Was vergessen? Kein Problem: Man kann die eigenen Tröts editieren, und wenn ein Tröt editiert wurde, wird das angezeigt.
- Wenn einem die gewählte Instanz nicht mehr gefällt oder man sie, weil sie gerade überrannt wird, entlasten möchte, kann man auf eine andere umziehen, ohne seine Tröts und seine weitere Konfiguration incl. Folgys und Gefolgte zu verlieren.
- Und natürlich kann man, ein wenig Admin-Kenntnisse vorausgesetzt, seine eigene Instanz aufbauen.
Letzteres habe ich auf Dauer vor. Also, wenn mal meine Kapazitäten reichen.
Ich habe meinen Account auf todon.eu im April 2022 eingerichtet und habe seitdem nicht einen einzigen Tröt gesehen, den ich als Marketing, Werbung oder sonstigen Spam einordnen würde. Hinweise von Einzel-Selbständigen, die jetzt bestimmt nicht den fetten Umsatz machen – insbesondere, wenn sie auf irgendeine Art und Weise marginalisiert sind –, sehe ich nicht als „kommerziell“ im klassischen Sinne an. Wir haben leider immer noch Kapitalismus, und gerade für chronisch kranke und/oder behinderte Menschen ist die Selbständigkeit oft die einzige Möglichkeit, überhaupt Geld zu verdienen. Ich falle ja selbst in diese Gruppe.
Die Anzahl der Spams, die ich in derselben Zeit auf Twitter gesehen habe, kann ich gar nicht zählen. Ich melde die schon gar nicht mehr, sondern blocke die Accounts nur noch, weil es mir mittlerweile egal ist, wie „sauber“ Twitter gehalten wird. Letzteres gilt auch für Leute, die mich beleidigen etc.; Twitter tut ja eh nix dagegen.
Die gesponsorten Tweets bekomme ich dagegen schon lange nicht mehr zu sehen; die Kombination aus Tweetdeck und uBlock origin im Browser leistet da ganze Arbeit, und auf dem Smartphone filtert das ansonsten nicht gerade super aktuelle Echofon Pro auch alles in der Art raus. Noch besser ist es aber natürlich, wenn das Netzwerk gar nicht erst mit dem Müll belastet wird.
Ich hatte mir im Browser sehr schnell das „erweiterte Webinterface“ eingestellt, das etwa so aussieht und funktioniert wie Tweetdeck. Das dann noch auf Dark Mode umgestellt, und ich fühlte mich schnell zu Hause.
Unter dem Hashtag #NeuHier bekommt man als Neu-Fedizen („Bürgy des Fediverse“) eine Menge hilfreicher Informationen. Allerdings las ich in den letzten zwei Wochen verstärkt darunter den Hinweis, man solle doch lieber boosten („retweeten“ im Fediverse) anstatt (nur) Sternchen („Likes“) zu verteilen. Denn im Gegensatz zu Twitter gibt es im Fediverse keine Algorithmen, die die Wichtigkeit von Nachrichten oder Accounts anhand der Anzahl der „Likes“ werten. Die Intention ist mir schon klar, aber das führt dazu, daß meine Timeline durch Boosts zeitweise quasi überschwemmt wird, während ur-eigene Tröts von Menschen fast untergehen. In den letzten Tagen hatte ich es mehrfach, daß ich mal eine halbe Stunde nicht draufgeguckt habe und dann über 100 neue Tröts anstanden, davon 90 % Boosts.
Gefühlt bekomme ich dadurch außerdem einige bekanntere Accounts, denen ich selbst nicht folge, so intensiv und Tröt für Tröt in die Timeline geboostet, daß es keinen Unterschied macht, ob ich ihnen folge oder nicht. Ich glaube, so ist das nicht gedacht. Oder, wie Susanne Lilith es ausdrückte:
@atarifrosch Wenn wir alle alles boosten, könnten wir es auch gleich so einrichten, dass wir alles von allen immer lesen könnten. Dann bräuchten wir niemand folgen. 100 mal der gleich Beitrag in die TL geboostet ist auch nicht so toll.
(Womit ich auch gleich mal das Einbetten von Tröts in Blogartikel getestet hätte. 🤓)
Zwar kann man für sich die Gefolgschaft so konfigurieren, daß man nur die originalen Tröts eines Accounts sieht, aber damit entgehen mir halt unter Umständen auch wieder Boosts, die mich denn doch mal interessiert hätten. Andererseits freuen sich Menschen durchaus auch über die Sternchen, denn das ist oft ein persönliches Dankeschön. Denkt da bitte dran, bevor Ihr massenweise boostet. Oder auch: Haltet bitte die Timelines Eurer Gefolgschaft sauber. 🙂
Was mach ich jetzt mit meinem Twitter-Account? Denjenigen, die ich auf Mastodon gefunden habe, entfolge ich auf Twitter. Der Account wird aber sicher noch stehenbleiben. Zum einen möchte ich mir noch ein paar Inhalte von anderen Accounts sichern – ich denke da vor allem an die von Vera Bunse und Alex Schestag, die in diesem Jahr verstorben sind und leider ihr digitales Erbe nicht geregelt hatten. Zum anderen stelle ich damit sicher, daß sich „böse Buben“ nicht, wie wohl bereits bei anderen geschehen, mein Twitter-Handle schnappen und darunter, sagen wir, unschöne Dinge verbreiten. Indem ich den Account stehen lasse, behalte ich die Kontrolle über meinen Nicknamen.
Mein Twitter-Archiv habe ich kürzlich heruntergeladen und überlege, wie ich es selbst am besten und durchsuchbar republizieren kann. Dabei kommt mir das Python-Script Twitter Archive Parser durchaus gelegen, auch wenn der Output noch nicht so ganz das ist, was ich brauche; aber es ist ein guter Anfang. Löschen werde ich meine Tweets nicht; ich schätze, das passiert von ganz alleine, wenn Twitter endgültig den Bach runtergeht. Und das sieht im Moment ganz danach aus.